Das Blutgericht
den verschriebenen Dosen einnahm, konnte er ein normales und glückliches Leben führen. Seine Mutter liebte ihn von ganzem Herzen – ihren kleinen Engel. Sie gab ihm alle Güte und Unterstützung, die er brauchte. Und auch er liebte seine Mutter.
Seinen Vater kannte er nicht. Der war von einem Expresszug zermanscht worden, als er im Vollrausch glaubte, an einem Bahnübergang Vorfahrt zu haben. Es war kein großer Verlust gewesen. Er kam ganz gut ohne ihn zurecht.
Allerdings machte er seinen Vater für seine Hautkrankheit verantwortlich. Es war der Samen seines Vaters, der ihm diesen Fluch eingebracht hatte. Aber in gewisser Weise war dieser Fluch auch eine Gabe, die ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er war.
Er war kein kränkliches Kind. Nein.
Er war stark und belastbar, und er kümmerte sich um seine Mutter, so wie es jeder Junge tun sollte. Als die Zeit gekommen war, seiner Mutter den größten Wunsch zu erfüllen, hatte er die Stärke bewiesen, das zu tun. Aus freiem Willen und ohne jeden Anflug von Egoismus oder Selbstmitleid. Sie hatte sich danach gesehnt, darum gebettelt, ihren gleichgültigen Gott angefleht. Deshalb konnte er nicht verstehen, warum sie ihn mitgenommen und ins Jugendgefängnis gesteckt hatten. Alle hatten sie gesagt, er sei ein Monster. Offensichtlich konnten sie ihn nicht verstehen. Er hatte nur getan, was seine Mutter erfleht hatte, jedes Mal, wenn er sie weinend vorgefunden hatte. Seine Mutter war unendlich traurig gewesen, seit dem Tag, an dem sein Vater gestorben war, und Jean-Paul wollte sie nur glücklich machen. Er achtete sogar darauf, dass er ihr so wenig Schmerzen wie möglich bereitete, als er ihr mit Großvaters altem Jagdgewehr in den Hinterkopf schoss.
Einen Soziopathen hatten ihn die Ärzte genannt. Einen Psychopathen. Andere hatten noch schlimmere Namen für ihn gefunden. Viel persönlicher und verletzender. Aber das war er nicht. Er war nicht krank. Weder körperlich noch geistig. Er konnte nicht verstehen, warum sie ihn acht Jahre weggeschlossen hielten.
»Ich kenne den Weichei-Namen, hinter dem Sie sich verstecken«, hatte Joe Hunter zu ihm gesagt. »Was ist eigentlich mit euch ganzen Versagern los? Wozu der dämliche Name? Das macht ihr Geisteskranken doch alle.«
Er hatte darüber gelächelt, wie albern diese Bemerkungen waren. Ähnliche Vorwürfe hatte er sich schon immer anhören müssen. Sein ganzes Leben lang waren solche Beleidigungen sein täglich Brot. Sie hatten ihn genährt, hatten ihn nur stärker gemacht, noch versessener darauf, den Zweiflern zu zeigen, wie weit höher er auf der Evolutionsleiter stand als sie. Sie konnten seine einzigartige Weltsicht nicht nachvollziehen, weil sie hilflose blinde Narren waren. Nichts weiter als Herdentiere.
Er hatte es Hunter gezeigt.
Er war besser als Hunter.
Und zwar deshalb, weil er Hunters menschliche Schwächen nicht teilte.
Wo er keine Sekunde überlegt hätte, durch eine Person hindurchzuschießen, um den Feind zu töten, hatte Hunter gezögert. Das war der Unterschied zwischen ihnen, das war der Grund, warum er besser im Töten war, als es Hunter je sein konnte. Hunter war gut ausgebildet worden. Seine Vorgesetzten beim Militär hatten ihm die Techniken des Tötens eingebläut, aber sie hatten diese menschliche Schwäche nie völlig ausrotten können, die Abneigung, einen Menschen kaltblütig zu ermorden. Mitgefühl und Schuldbewusstsein waren stärker als der Finger am Abzug.
Deswegen hatten die Ärzte Jean-Paul zum Soziopathen abgestempelt. Kein Mitgefühl. Kein Schuldbewusstsein. Genau wie bei seinem Vater, dachte er.
Hunter hingegen hatte dieses Mitgefühl – verglichen mit Jean-Paul sogar im Übermaß.
Dantalion glaubte, dass er Hunters Schwäche für seine Zwecke nutzen konnte: Hunter sollte alle Zielpersonen zu ihm bringen. Und dann würde er sie alle töten. Hunter würde er sich bis zum Schluss aufheben, damit sich dessen Schuld ins Unermessliche steigerte. Und, dachte er mit einem Seitenblick auf seine Geisel, mit Bradley Jorgenson würde er anfangen.
Seine Flucht von der Insel war leichter, als er anfangs für möglich gehalten hätte. Als Hunter und der FBI-Agent auftauchten, hatte er für einen Augenblick an sich gezweifelt. Allein dem zufälligen Auftauchen von Seagram, der durch die Gegend stolperte wie in einem Zombie-Film, hatte er es zu verdanken, dass er flüchten konnte. Er hatte nicht tief genug geschnitten, als er dem Mann den Hals aufschlitzte, aber am Ende war nochmal alles
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