Kurz vor Mitternacht
1
19. November
Die Gruppe, die um den Kamin saß, bestand größtenteils aus Juristen. Da waren Rechtsanwalt Martindale, Kronanwalt Rufus Lord, der junge Anwalt Daniels, der sich im Fall Carstains einen Namen gemacht hatte, Richter Cleaver, Lewis von der Firma Lewis und Trench sowie der alte Mr Treves. Treves war fast achtzig, ein sehr reifer und erfahrener Mann. Er gehörte einer bekannten Anwaltsfirma an, hatte zahlreiche schwierige Fälle vor Gericht vertreten, und man sagte von ihm, dass er mehr Hintertreppengeschichten zu erzählen wüsste als irgendeiner in England und sich auf dem Gebiet der Kriminologie gut auskannte.
Unüberlegte Leute meinten, Treves müsse unbedingt seine Memoiren schreiben. Aber Treves wusste es besser. Er wusste, dass er zu viel wusste.
Obwohl er nicht mehr praktizierte, wurde seine Meinung von den Kollegen in besonderem Maße geachtet. Wenn er seine klare Stimme erhob, entstand stets ehrfurchtsvolle Stille.
Das Gespräch drehte sich gerade um einen Fall, der an diesem Tage vor Gericht zur Entscheidung gekommen war. Es handelte sich um einen Mordfall, und der Angeklagte war freigesprochen worden.
Der Staatsanwalt hatte den Fehler begangen, zu sehr auf die Zeugenaussage eines Dienstmädchens zu bauen, wodurch der Verteidiger leichtes Spiel gehabt hatte. Nachher war es dann zu spät, die Geschworenen schenkten der Aussage der Zeugin Glauben.
Mit Geschworenen war das so eine Sache – man wusste nie, was sie schlucken würden und was nicht. Hatten sie sich aber einmal etwas in den Kopf gesetzt, so ließ es sich kaum wieder austreiben. Sie glaubten ganz einfach nicht, dass das Mädchen die Wahrheit gesagt hatte, und damit fertig. Das ärztliche Gutachten hatte ihr Fassungsvermögen überstiegen. All die langen Fachausdrücke und medizinischen Redewendungen – sehr schlechte Zeugen, diese Wissenschaftler, viel zu skrupulös, konnten auf eine klare Frage nie mit ja oder nein antworten, immer nur mit einem «Unter gewissen Umständen könnte es sein…» und dergleichen!
Sie redeten sich alles vom Herzen, und als die Zeitabstände zwischen den einzelnen Sätzen allmählich immer länger wurden, verbreitete sich ein Gefühl, als ob etwas fehlte. Ein Kopf nach dem andern wandte sich dem alten Treves zu. Es wurde deutlich, dass alle Anwesenden das entscheidende Wort von ihrem geachtetsten Kollegen erwarteten.
Treves, der in seinem Sessel bequem zurückgelehnt saß, putzte geistesabwesend seine Brillengläser. Das Schweigen bewirkte, dass er mit einem Ruck aufblickte:
«Haben Sie mich etwas gefragt?»
«Wir sprachen über den Fall Lamorne», erwiderte der junge Lewis.
«Ja, ja, darüber dachte ich auch gerade nach, aber in meinem Alter lässt man ganz gern der Fantasie freien Lauf. Ich beschäftigte mich weniger mit den juristischen Gesichtspunkten als mit den Menschen.»
Alle sahen ihn etwas verwundert an. Keinem der Herren war es eingefallen, die in den Fall verwickelten Menschen anders zu betrachten als im Hinblick auf ihre Glaubwürdigkeit als Zeugen.
«Menschenwesen», sagte Treves sinnend. «Menschenwesen. Alle Arten und Sorten und Größen. Einige mit Verstand, viel mehr ohne Verstand. Von überallher waren sie zusammengekommen, aus Lancashire, aus Schottland, der Gastwirt sogar aus Italien und die Lehrerin irgendwoher aus dem Mittelwesten. Alle in die Sache verwickelt und zum Schluss an einem grauen Novembertag vor ein Londoner Gericht gebracht. Jeder trug seinen kleinen Teil bei. Und das Ganze fand seinen Höhepunkt in einem Mordprozess.»
Er machte eine Pause und trommelte auf seinem Knie.
«Ich liebe gute Detektivgeschichten», fuhr er dann fort. «Aber sie fangen am verkehrten Ende an. Sie beginnen mit dem Mord. Der Mord bildet jedoch den Schluss. Die Geschichte beginnt eigentlich lange vorher, manchmal viele Jahre vorher, mit all den Ursachen und Geschehnissen, die bestimmte Menschen an einem bestimmten Tage zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Ort zusammenführen.
Nehmen Sie nur die heutige Zeugenaussage des Dienstmädchens. Hätte das Mädchen nicht ihren Schatz in die Klemme gebracht, so wäre sie nicht Hals über Kopf zu den Lamornes gegangen, um dann als Hauptzeugin der Verteidigung aufzutreten. Und dieser Giuseppe Antonelli, der herüberkam, um einen Monat lang die Stelle seines Bruders einzunehmen. Der Bruder ist so blind wie eine Fledermaus. Er hätte nicht gesehen, was Giuseppes scharfe Augen sahen. Und wenn der Wachtmeister nicht der Köchin von
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