Das Blutgericht
Schicksal seinen Lauf zu. Er kann den Regen nicht aufhalten. Er kann den Tod nicht aufhalten. Deswegen akzeptiert er ihn.
Wir hielten an einer Raststätte in der Nähe von Port St. Lucie, um zu tanken, und bestellten bei einem Imbiss auf dem Gelände etwas zu essen. Aus dem Cheeseburger, den ich mir letzte Nacht gewünscht hatte, war nie was geworden, deshalb stürzte ich mich jetzt mit dem Appetit eines Verhungernden auf den heutigen. Auch die Pommes gingen gut runter. Während ich die fetttriefenden Verpackungen zum Mülleimer brachte, machte Rink den Anruf, vor dem er sich gefürchtet hatte.
Andrew Rington war schottischer Abstammung. Ihm konnte diese ganze Samurai-Scheiße gestohlen bleiben, wenn es um die Familie ging. Sein Clan-Denken schrieb vor, dass es nichts Wichtigeres gab als familiäre Bindungen. Auch ich teilte diese Ansicht. Rink hatte Größe und Körperbau von Andrews Seite der Familie geerbt, aber seine Denkweise stammte definitiv von der Seite seiner Mutter. Die Pflicht ging vor, und sein Vater würde das eines Tages verstehen. Aber bevor er zu dieser Einsicht kam, würde er Rink wahrscheinlich ein gewaltiges Donnerwetter bereiten.
Als ich zum Porsche zurückkam, hatte Rink ausgeredet. Ich suchte mir die am weitesten entfernt stehende Mülltonne, die ich finden konnte, und schaute mir mehr als fünf Minuten lang an, wie die Fliegen um sie herumschwirrten. Wer weiß, was jemand gedacht hätte, der mich etwa beobachtete? Ich hätte ihm gesagt, ich sei Hobby-Insektenforscher.
»Wie geht es Yukiko?«
»Sie hält sich ganz gut«, sagte Rink. Er lächelte, aber es steckte zu viel Traurigkeit darin, als dass es mehr als aufgesetzt gewirkt hätte.
»Sie ist eine tapfere Frau. Wie wird dein Vater damit fertig?«
»Er ist ein tapferer Mann«, sagte Rink. Dieses Mal war sein Lächeln beseelter. Vielleicht hatte ich den Ursprung von Jared Ringtons Erbanlagen auch falsch eingeschätzt. Für einen kurzen Moment hatte er ausgesehen – und sich so angehört – wie das Ebenbild seines Vaters.
Aufgewachsen in Little Rock, Arkansas, war Hitomi Yukiko erst fünf Jahre alt, als die kaiserlich-japanische Armee den USA mit dem Angriff auf Pearl Harbor den Krieg erklärte. Das kleine Mädchen, dessen Name »Schneekind« bedeutete, wurde zusammen mit ihren Eltern in Rohwer interniert – einem sogenannten Umsiedlungslager für japanischstämmige Amerikaner –, und zwar von den gleichen Leuten, die seit zwei Generationen ihre Nachbarn gewesen waren. Nach den Verwüstungen, die die Bombenladung der Enola Gay auf dem japanischen Festland angerichtet hatte, wäre es nur zu verständlich gewesen, wäre die Familie Hitomi voller Verachtung für die USA in die Heimat ihrer Vorväter zurückgekehrt. Aber sie waren US-Bürger und wollten ihr Zuhause nicht verlassen. Yukiko war siebzehn, als sie ihren zukünftigen Ehemann kennenlernte: Andrew Rington, einen schottisch-kanadischen Soldaten, der aus dem Koreakrieg heimkehrte. Fünf Jahre später heirateten die beiden. Yukiko brachte drei Kinder zur Welt. Yuko, ein Mädchen, das kurz nach der Geburt starb, und Ronald, einen Sohn, der im Militärdienst in Kuwait sein Leben ließ. Und dann, als sie sich schon in einem Alter befand, in dem sie sich eigentlich damit hätte abfinden müssen, der Erinnerung an ihr totes Mädchen nachzutrauern, brachte sie noch ein Kind zur Welt, Jared. Yukiko und Andrew liebten ihren kleinen Jungen abgöttisch.
Und das taten sie beide immer noch.
Genau so abgöttisch wie Rink ihre Liebe erwiderte.
Ich hatte das Gefühl, dass Rinks Entschluss, hierzubleiben und mir zu helfen, ihn noch lange verfolgen würde.
»Ich habe meinem Vater gesagt, dass ich zu ihnen komme, sobald wir das hier erledigt haben«, sagte Rink.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Okay, Rink«, sagte ich, »bringen wir es hinter uns.«
14
Neptune Island war nicht nur das Zuhause des Jorgenson-Clans, über die Halbinsel verlief auch ein Abschnitt des Küstenhighways, der von Jupiter City nach Hobe Sound führte. Die megareiche Familie konnte zwar die Insel kaufen, aber sie konnte den Verkehrsfluss entlang der Küste nicht unterbinden. Die Straße war die Alternative zur I-95, eine malerische Touristenroute, deshalb war sie zu bestimmten Zeiten des Jahres ständig von Urlaubern verstopft, die zwischen Miami und Orlando unterwegs waren. Auf den Sandbänken und Dünen, die den größten Teil des Küstenlandes ausmachten, campierten oft Urlauber, die dann zu den
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