Das Blutgericht
Stränden hinunterspazierten und im flachen tropischen Wasser nach Meeresschildkröten suchten. Über Nacht zu campen war auf Neptune Island zwar nicht gestattet, aber es gab kein Gesetz, das den Leuten verbot, an den Haltebuchten neben der Straße eine Rast einzulegen.
Ein kleines Stück weiter, im Westen und im Süden, gediehen Palmen und Bäume wie Mahagoni und Gumbo-Limbo, aber hier an der Atlantikküste herrschten Eichen, Pinien und Weiden vor. Große Teile des Baumbestandes hatten den Highways und den Ansiedlungen entlang der Küste weichen müssen, aber draußen auf Neptune Island hatten sich einige kleinere Wälder gehalten. Insgesamt überwogen jedoch Gräser in Form von hüfthohen, scharfblättrigen Binsenschneiden. Gelegentliche Kalksteinverwerfungen bildeten kleine Hügel, wo sich die heimische Tierwelt ihr Zuhause geschaffen hatte. Urlauber trampelten mit der Kamera in der Hand durch die Gräser, in der Hoffnung, Fotos von Waschbären, Marschkaninchen und – mit viel Glück – Rotluchsen zu schießen.
Dantalion hatte kein Interesse an der Tierwelt, aber er stellte fest, dass er in der Verkleidung eines vogelbeobachtenden Touristen unbehelligt den Jorgenson-Komplex auskundschaften konnte. Er war ja nur einer von schätzungsweise einem Dutzend Touristen, die mit hochempfindlichen Ferngläsern unterwegs waren. Er hatte sich passend angezogen, damit er nicht auffiel. Er trug einen cremefarbenen Hut und eine dunkle Brille, ein grelles Hawaiihemd, das anscheinend ein Anhänger von Jackson Pollock nach einem bewusstseinserweiternden LSD-Trip entworfen hatte, lange Khaki-Shorts und an den Füßen abgelatschte Segelschuhe. Seine der Sonne ausgesetzten Arme und Schienbeine hatte er mit großzügigen Dosen Hydrocortison-Salbe eingerieben, aber selbst das fiel nicht auf, da die anderen Touristen ihre blütenweiße Haut durch Cremes mit hohem Lichtschutzfaktor abdeckten. Er reihte sich perfekt ein unter die Europäer, die hier ihren ersten oder zweiten Tag in der sengenden Sonne verbrachten. Über die Schulter trug er eine Tasche, die bei jedem Schritt unangenehm gegen seine Hüfte prallte. Darin transportierte er seine Beretta 92, ein halbes Dutzend Ersatzmagazine und sein Buch.
Die Schusswunde, die er am Oberschenkel davongetragen hatte, zwang ihn zum Hinken. Aber das war gut, es trug zu seiner Verkleidung bei.
Er sah nicht aus wie ein Killer.
An ihrem südlichsten Zipfel war die Halbinsel künstlich aufgeschüttet worden, als Unterbau für die Straßenbrücke, die sich dann weiter zum Festland hinüberzog. Unter der Brücke ging Dantalion hindurch, seine Schuhe versanken dabei im Schlick. Draußen im Watt verlustierte sich eine Familie, drehte Steine um, mit einem Freudenschrei reckte ein Kind seinen Fund in die Luft. Die Trophäe wand sich in seiner Hand, Chitinbeine zappelten wild, der kleine Junge ließ sie mit einem Laut des Entsetzens wieder fallen. Die Familie lachte, als der Kleine davonrannte, um der wütenden Krabbe zu entkommen.
Dantalion schenkte ihnen keine große Aufmerksamkeit. Zwischenmenschliche Kontakte waren nichts für ihn. Das war unter seiner Würde. Menschen waren nur zu zwei Dingen gut: dass sie nach seiner Pfeife tanzten und dass sie ihm Geld bezahlten. Halt, es gab noch etwas, was sie für ihn tun konnten: Sie konnten unter Qualen und in Todesangst sterben.
Kurz dachte er daran, seine Pistole herauszuholen und die gesamte Familie zu erschießen. Ihr Lachen tat ihm tief in seinem Inneren weh, erinnerte ihn an das gehässige Gelächter, das er in seiner Kindheit hatte ertragen müssen. Das Einzige, was die Familie vor dem Tod bewahrte, war, dass er nicht in der Stimmung für Zahlenspiele war. Ihre individuellen Nummern gemäß seiner Formel festzulegen war nicht ganz einfach, und dafür hätte er sich konzentrieren müssen. Er wollte seine Liste nicht durch falsche Kalkulationen entwerten.
Aus dem Schatten der Brücke herausgetreten, lief er wieder im direkten Sonnenlicht. Er konnte das Brennen in seinem Nacken spüren, seine Wadenmuskeln fühlten sich an, als ob jemand einen Bunsenbrenner dagegen hielt. Der Sand kratzte, wo er an seiner Haut klebte. Er flüchtete sich in die hohen Binsenschneiden. Aber dort wurde es noch schlimmer: Die Blätter schlangen sich um seine Beine, und kleine juckende Schnitte waren die Folge. Es war zum Verrücktwerden.
Aber er wurde nicht verrückt. Er war Profi.
Von kleineren Unannehmlichkeiten wie dieser ließ er sich nicht unterkriegen.
Früher
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