Das Blutgericht

hohe Summen für seine Dienste zu bezahlen. Als er in seinen Teenagerjahren die alten Werte seiner Heimat Mississippi hinter sich gelassen hatte, hielt er sich an esoterische Bücher und Sagen, um dort die perfekte Inkarnation des Profikillers zu suchen, zu dem er werden wollte.
    Im Buch Henoch fand er die passende Figur: Dantalion, einer der Engel, die von Gabriel und der Armee Gottes aus dem Himmel verstoßen wurden. Die Schar der Gefallenen war gezählt. Der einundsiebzigste Geist war Dantalion. Er war ein großer und mächtiger Fürst der Hölle. Der Legende nach zeigte er sich als Mann von mannigfaltigem Antlitz, den Gesichtern aller Männer und Frauen. Welche bessere Beschreibung könnte es für jemanden geben, der so androgyn war wie er, mit seinem Talent zur Verkleidung? Vom Engel Dantalion sagte man, dass er die Gedanken sämtlicher Männer und Frauen kannte, sie in einem Buch mit sich herumtrug und sie nach Belieben beeinflussen konnte. Auch der moderne Dantalion hatte die Fähigkeit, den Willen der Menschen zu brechen und die Summe ihres Lebens in seinem Buch niederzuschreiben. Er hatte die Macht über ihr Leben und ihren Tod.
    Er durchquerte die Graslandschaft, blieb stehen und hob das Fernglas. Er betrachtete die Vögel, die im Schilf nach Insekten suchten, und sah dabei aus wie alle anderen Vogelbeobachter in der Gegend. Beiläufig ließ er das Glas an dem turmbewehrten Tor zum Gelände der Jorgensons vorbeischweifen. Das Tor lag nah am Wasser und wurde nicht täglich – vermutlich nicht einmal jährlich – benutzt. Es war ein mehr als ein halbes Jahrhundert altes Überbleibsel, ein Ausfallstor zur Küste aus der Zeit, als es die Überlandstraße noch nicht gab. Er konnte sich vorstellen, wie die Leute in alten Zeiten dort aus ihren Gärten zum Strand spazierten. Vielleicht hatten sie einen Picknickkorb und eine Decke dabei. Vielleicht hatte Valentin Jorgenson als Junge an genau dieser Stelle des Strands seine Kindheit genossen, bevor er zu dem erfolgreichen Geschäftsmann wurde, der das Vermächtnis seines Vaters übernahm. Bevor der Krebs ihn in den Griff bekam. Bevor Dantalion ein paar gut gezielte Kugeln in ihm versenkte.
    Ein schmiedeeisernes Tor versperrte den Zugang zum Gelände. Es hätte dringend einen neuen Anstrich vertragen können, und durch die feuchte Seeluft waren die Torflügel verrostet. Genauso verrostet waren die Kette und das Vorhängeschloss, mit denen das Tor abgesperrt war. Ein Schild prangte an der Wand daneben: KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE – PRIVATBESITZ.
    Als ob das Dantalion abhalten könnte.
    Ein Glücksfall ergab sich: Ein seltener Schneckenweih segelte über den Himmel und landete auf der Mauer neben dem Eingang. Mit dem Fernglas vor Augen näherte sich Dantalion. Betrachtete genauestens. Nicht den Vogel. Er erkannte, dass er das Schloss mit einem 9mm-Geschoss seiner Beretta leicht öffnen könnte. Innerhalb von Sekunden konnte er auf dem Gelände sein.
    Der Vogel erhob sich wieder in die Lüfte. Und auch Dantalion spazierte weiter.
    Er würde später wieder zurückkommen.

15
    »Wir sind hier, um mit Bradley Jorgenson zu sprechen.«
    »Name?«
    »Er kennt meinen Namen nicht.«
    »Dann erwartet er Sie also nicht?«
    »Nein, das denke ich nicht.«
    »Dann müssen Sie einen Termin mit dem Büro seiner persönlichen Assistentin arrangieren. Sie haben ihre Kontaktinformationen?«
    »Nein, habe ich nicht.«
    »Dann, fürchte ich, ist es nicht möglich, dass Sie ihn sprechen. Im Moment bringen uns die Medien sehr viel unerwünschte Aufmerksamkeit entgegen, und ich habe die explizite Vorgabe, alle Anfragen an Mr. Jorgensons Pressestelle zu verweisen. Guten Tag, Sir. Bitte bewegen Sie Ihr Fahrzeug, damit es nicht die Zufahrt blockiert.«
    Die Sprechanlage wurde abgestellt, das grüne Licht ging aus. Ich lehnte mich zurück in den Porsche und schaute Rink an. Er hob die Augenbrauen, aber das war schon alles, was er beitrug.
    Ich drückte den Summer noch einmal.
    »Sir, ich habe Ihnen bereits gesagt …«
    Ich hörte nicht zu. Ich öffnete die Wagentür und ging zum Tor. Ich starrte in die Überwachungskamera, die Fäuste an meiner Seite geballt und schrie: »Sprechen Sie mit Jorgenson. Sagen Sie dem undankbaren Hurensohn, dass Joe Hunter hier ist. Ohne mich wäre er letzte Nacht gestorben.«
    Ich legte wieder den Finger auf den Summerknopf. Hielt ihn gedrückt. Irgendwo auf dem Gelände würde der Summer lange und laut aufschreien, vielleicht den Wächter in den Wahnsinn