Das böse Auge
einen der Drachen herbei. Sie redete zu ihm in der Drachensprache, und bald schon ritt sie auf seinem gewaltigen Rücken durch die Lüfte, dem Land der Valunen entgegen…
1.
Luxon saß in seinen grauen Lumpen auf einem mannshohen Felsen in der Mitte einer kleinen Senke und haderte mit seinem Schicksal.
Um den Felsen herum saßen sie, hockten auf dem kahlen Boden oder lagen wie schlafend da – zwergenhafte Menschen mit fast schwarzer Haut, gedrungenen Körpern und langen, bis auf den Boden reichenden Armen und viel zu großen Köpfen. Das wild wuchernde Haupthaar fiel ihnen bis auf die Hüften und verbarg fast völlig ihre Gesichter und Oberkörper. Wenn diese derben Gesichter doch einmal zum Vorschein kamen, so leuchteten in ihnen große, gelbliche Augen, deren Farbe sich allerdings schnell verändern konnte.
Diese Augen waren das Schrecklichste an den Valunen.
Sie drängten ihn schon wieder, wurden unruhig und wollten neue Geschichten hören. Luxon wußte nur zu gut, daß ihm wenig Zeit zur Erholung blieb. Die Zwerge würden ihre Augen auf ihn richten und ihn zwingen, weiterzumachen. Mit ihrem Bannblick machten sie jeden Gegner wehrlos und brachten einen Menschen dazu, alles zu tun, was sie von ihm verlangten.
Luxon hatte es mittlerweile oft genug am eigenen Leibe erfahren. Es half auch nichts, sich einfach abzuwenden oder das Gesicht in den Händen zu verbergen. Wie eine Affenhorde stürzten sich die Valunen dann auf ihn, drehten ihm die Arme auf den Rücken und zogen ihm die Lider hoch.
»Gleich«, sagte er. »Wartet nur noch, bis mir eine neue Geschichte eingefallen ist.«
»Dann erzähle uns die letzte noch einmal!« erscholl es im Chor um ihn herum. »Erzähle! Erzähle!«
»Ich überlege ja schon! Ich bin eben auch vergeßlich, ihr kleinen Plagegeister!«
Vergeßlich – oh ja, das waren sie. Wahrscheinlich hatten sie jetzt schon wieder vergessen, was er ihnen gerade gesagt hatte.
Ganz so schlimm war es natürlich nicht. Luxon sah ihre Augen in der ewigen Dunkelheit dieses gebirgigen Landes leuchten und wollte die Ruhepause so lange wie möglich ausdehnen. So viele Geschichten hatte er den Valunen schon erzählt, wahre und erfundene, daß er schon fast selbst nicht mehr wußte, was Wirklichkeit und was Traum war.
Ihre verdammte Vergeßlichkeit! Spätestens nach ein paar Tagen wußten sie nichts mehr von dem, was er ihnen gesagt hatte oder was überhaupt hier geschehen war. Sie konnten ein und dieselbe Geschichte zehnmal hören, und jedesmal kreischten sie von neuem vor Begeisterung. Sie waren dabei ungeheuer wißbegierig, trotz ihrer ansonsten kaum ausgeprägten geistigen Fähigkeiten. Darum brauchten sie einen Hüter und Anführer, der sich für sie erinnerte und dafür sorgte, daß sie nicht vergaßen, wer sie überhaupt waren und welche Gefahren sie hier, in der Düsterzone, zu fürchten hatten.
All das tat Luxon für sie, und dabei fühlte er sich von Tag zu Tag schwächer, als zehrte ihn etwas aus.
Wie oft hatte er Necron schon verflucht, den Alleshändler, der ihn im Austausch gegen ein halbes Dutzend Graupferde und einige andere Güter als Häuptling an die Valunen verkauft hatte?
Wieviel Tage waren eigentlich vergangen, seit Necron mit seinem Gefährt in der Düsternis verschwand und ihn hier zurückließ? Fünf oder sechs? Zehn vielleicht?
Nur manchmal riß die Dunkelheit für kurze Zeit auf, und dann konnte Luxon die Berge jenseits der Düsterzone schwach sehen. Auf seine Fragen, welches Land dort liege, konnten die Zwerge ihm keine Antwort geben – sie hatten es vergessen.
Allerdings mußten sie über eine gewisse Stammeserinnerung verfügen, etwas, das tief in ihnen verankert war und nur manchmal in ihr Denken drang. Luxon hatte beobachtet, wie einige Valunen sich gegenseitig Dinge vorsagten, die sie kurz darauf anderen gegenüber wiederholten. Dies geschah ohne Unterlaß. Was so wichtig für sie war, daß sie es behalten mußten, hielten sie auf diese Weise fest.
So wußten die Valunen nur zu sagen, daß sie manchmal in dieses Land jenseits der Düsterzone vordrangen und dort auf Raubzug gingen. Daß sie dabei neben den begehrten Graupferden auch Menschen jagten und verschleppten, war nicht gerade dazu angetan, sie Luxon liebenswerter zu machen. Dazu kamen ihre seltsamen Andeutungen, daß sie sich von dort einen neuen Hordenführer holen würden, sobald Luxon »gegangen« sei.
Wohin sollte er denn gehen? Sein bisher einziger Fluchtversuch war kläglich
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