Das Bourne-Vermächtnis
versäumt, aber das war ihm herzlich egal. Er hob das Schnappmesser und die Pistole auf. Als er die Pistole überprüfte, entlud und abdrückte, brach der Schlagbolzen ab. Die nutzlose Waffe warf er in einen Abfallkorb, aber das Schnappmesser steckte er ein.
Hinter der Korridorecke half Rongsey ihm, die verstreuten Semesterarbeiten einzusammeln. Dann gingen sie schweigend durch die Flure, die umso belebter wurden, je näher sie der Vorderseite des Gebäudes kamen. Webb erkannte die besondere Qualität dieses Schweigens, das schwerfällig träge Gewicht der nach einem Akt der Gewalt zur Normalität zurückkehrenden Zeit. Dies war etwas aus dem Krieg, ein Dschungelerlebnis; seltsam und beunruhigend, dass einem so etwas auf dem belebten Campus einer Universität mitten in einer Großstadt passieren konnte.
Sie verließen den Korridor und schlossen sich den Scharen von Studenten an, die durch den Hauptausgang der Healy Hall strömten. Im Boden vor den Türen
leuchtete das in den Fußboden eingelassene heilige Wappen der Georgetown University. Die meisten Studenten gingen darum herum, denn ein alter Aberglaube besagte, wer auf das Wappen trete, werde sein Studium niemals abschließen. Rongsey gehörte zu denen, die einen weiten Bogen darum machten, aber Webb marschierte ohne die geringsten Bedenken geradewegs darüber.
Draußen standen sie in der milden Frühlingssonne, hatten Bäume und den alten viereckigen Innenhof vor sich und atmeten Luft mit einem Hauch Blütenduft.
Hinter ihnen erhob sich die massive Healy Hall mit imposanter Klinkerfassade im georgianischen Stil, Dachgauben aus dem 19. Jahrhundert und einem mittig angeordneten, sechzig Meter hohen Glockenturm.
Der Kambodschaner wandte sich an Webb. »Professor, ich danke Ihnen. Wären Sie nicht gekommen …«
»Rongsey«, sagte Webb freundlich, »möchten Sie darüber reden?«
Die Augen des Studenten waren dunkel, unergründlich. »Was gibt’s da zu sagen?«
»Ich denke, das würde von Ihnen abhängen.«
Rongsey zuckte mit den Schultern. »Mir geht’s wieder gut, Professor Webb. Wirklich. Ich bin nicht zum ersten Mal beschimpft worden.«
Webb betrachtete Rongsey noch einige Sekunden lang und wurde dabei von plötzlicher Rührung erfasst, die seine Augen brennen ließ. Er wollte den Jungen in die Arme schließen, ihn an sich drücken und ihm versprechen, ihm werde nie wieder etwas Schlimmes passieren.
Aber er wusste, dass Rongseys buddhistische Erziehung ihm nicht gestatten würde, die Geste zu akzeptieren. Wer konnte beurteilen, was hinter der undurchdringlichen Fassade dieses Gesichts vorging? Webb hatte viele andere wie Rongsey gesehen, die durch die Grausamkeiten von Krieg und kulturellem Hass gezwungen gewesen waren, Augenzeugen von Tod, dem Zusammenbruch einer Zivilisation und weiteren Tragödien zu sein, die die meisten Amerikaner nicht begreifen konnten. Er empfand eine starke Nähe zu Rongsey, von schrecklicher Traurigkeit getönte emotionale Bande, eine Bestätigung der Wunde in seinem Inneren, die nie ganz heilen würde.
Alle diese Gefühle standen zwischen ihnen: vielleicht im Stillen erkannt, aber niemals ausgesprochen. Mit leichtem, fast traurigem Lächeln dankte Rongsey ihm nochmals förmlich, und sie verabschiedeten sich voneinander.
Webb stand allein zwischen den vorbeihastenden Studenten und Dozenten – und wusste doch, dass er nicht wirklich allein war. Trotz aller Bemühungen hatte die aggressive Persönlichkeit Jason Bournes wieder einmal die Oberhand gewonnen. Er atmete langsam und tief, konzentrierte sich angestrengt und wandte die mentalen Techniken an, die sein Freund, der Psychiater Mo Panov ihn gelehrt hatte, um die Bourne-Identität zu verdrängen. Als Erstes konzentrierte er sich auf seine Umgebung, auf das Blau und Gold des Frühlingsnachmittags, auf den grauen Stein und die roten Klinker der Gebäude rings um den Innenhof, auf die Bewegungen der Studenten, die lächelnden Gesichter der Mädchen, das Lachen der Jungen, die ernsten Stimmen der Professoren. Er absorbierte jedes einzelne dieser Elemente vollständig und erdete sich in Raum und Zeit. Dann, erst dann richtete er seine Gedanken nach innen.
Vor vielen Jahren war er als Diplomat in Phnom Penh stationiert gewesen. Damals war er verheiratet gewesen –
nicht mit seiner jetzigen Frau Marie, sondern mit einer Thailänderin namens Dao. Sie hatten zwei Kinder, Joshua und Alyssa, und wohnten in einem Haus am Fluss.
Amerika führte Krieg gegen Nordvietnam, aber der
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