Das Bourne-Vermächtnis
gelegentliches Lachen täuschten über die in seiner unmittelbaren Umgebung lauernde Gefahr hinweg. Als er sich der Tür des Seminarraums näherte, ließ er die Klinge des erbeuteten Messers herausschnappen und nahm es so in die Faust, dass sie zwischen dem zweiten und dritten Finger seiner Rechten hervorsah. Mit einer flüssigen Bewegung stieß er die Tür auf, rollte sich über eine Schulter ab und landete mit einem Satz hinter dem massiven Eichenpult, das etwa zweieinhalb Meter von der Tür entfernt stand. Seine Hand mit dem Messer war stoßbereit erhoben – er war auf alles vorbereitet.
Er richtete sich vorsichtig auf. Ein leerer Seminarraum, nur von Kreidestaub und marmorierten Sonnenflecken erfüllt, grinste ihn an. Er stand einen Augenblick da und sah sich um: mit geweiteten Nasenlöchern, als könne er die Witterung des Scharfschützen aufnehmen, sein Bild aus dem Nichts vor sich erscheinen lassen. Er trat an die Fenster. Eines, das vierte Fenster von links, stand offen. Er blieb dort stehen, starrte zu der Stelle unter dem Baum hinüber, an der er vor kurzem im Gespräch mit Rongsey gestanden hatte. Hier hatte der Scharfschütze gestanden. Bourne glaubte zu sehen, wie er das Gewehr auf der Fensterbank aufgelegt – ein Auge ein paar Zentimeter hinter dem lichtstarken Zielfernrohr –
und diagonal über den Innenhof gezielt hatte. Das Spiel von Licht und Schatten, die vorbeihastenden Studenten, plötzlich ausbrechendes Lachen oder Widerworte. Sein Finger am Abzug, langsam den Druckpunkt fassend.
Fffftt! Fffftt! Ein Schuss, zwei.
Bourne studierte die Fensterbank. Nach einem Blick in die Runde trat er an die Blechrinne unter der Wandtafel und kratzte Kreidestaub zusammen. Damit kehrte er ans Fenster zurück und blies den Staub vorsichtig von der Handfläche auf den polierten Schiefer der Fensterbank. Dort zeigte sich kein einziger Fingerabdruck. Der Stein war abgewischt worden. Er kniete sich hin und suchte Wand und Fußboden unter dem Fenster ab.
Wieder nichts – kein verräterischer Zigarettenstummel, keine ausgefallenen Haare, keine leeren Patronenhülsen.
Der pedantische Attentäter war so professionell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Bournes Herz jagte, sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Wer wollte ihn ermorden lassen? Bestimmt niemand aus seinem gegenwärtigen Leben. Das schlimmste Vorkommnis war die Auseinandersetzung, die er letzte Woche mit Bob Drake, dem als lästigen Langweiler bekannten Dekan der Ethischen Fakultät, gehabt hatte. Nein, diese Bedrohung kam aus Jason Bournes Welt. Natürlich gab es aus seiner Vergangenheit viele Kandidaten, aber wie viele würden die Verbindung zwischen Jason Bourne und David Webb
herstellen können? Das war die eigentliche Frage, die ihm Sorgen machte. Obwohl ein Teil seines Ichs heimfahren wollte, um diese Sache mit Marie zu besprechen, wusste er, dass der einzige Mensch, der genügend über Bournes Schattenexistenz wusste, um ihm helfen zu können, Alex Conklin war – der Mann, der Bourne wie ein Zauberer aus dem Nichts erschaffen hatte.
Er trat an das Wandtelefon, nahm den Hörer ab und tippte seinen persönlichen Zugangscode ein. Als er eine Amtsleitung bekam, wählte er Alex Conklins Privatnummer. Conklin, der bei der CIA nur noch einen Teilzeitjob hatte, würde zu Hause sein. Bourne hörte ein Besetztzeichen.
Was tun? Er konnte hier darauf warten, dass Alex zu telefonieren aufhörte – was eine halbe Stunde und länger dauern konnte, wie er aus Erfahrung wusste –, oder zu ihm hinausfahren. Das offene Fenster schien ihn zu verspotten. Es wusste mehr darüber, was hier passiert war, als er selbst.
Er verließ den Raum, ging wieder die Treppe hinunter. Ohne sich dessen bewusst zu sein, suchte er die Gesichter der Entgegenkommenden ab, verglich sie mit allen, die ihm zuvor begegnet waren.
Bourne hastete über den Campus, erreichte bald den Parkplatz für Dozenten. Er wollte schon in sein Auto steigen, als ihm Bedenken kamen. Eine rasche, aber gründliche Untersuchung der Außenseite und des Motorraums zeigte ihm, dass niemand sich an seinem Wagen zu schaffen gemacht hatte. Er setzte sich aufatmend ans Steuer, ließ den Motor an und fuhr vom Campus.
Alex Conklin lebte auf seinem Landsitz in Manassas, Virginia. Sobald Webb die Außenbezirke von Georgetown erreichte, leuchtete der Himmel in einem intensiveren Blau; zugleich setzte eine fast unheimliche Stille ein, als halte die vorbeiziehende Landschaft den Atem an.
Ähnlich wie für
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