Das Bourne-Vermächtnis
Krieg war nach Kambodscha übergeschwappt. Eines Nachmittags, als er im Dienst gewesen war und seine Frau mit den Kindern im Fluss gebadet hatte, waren sie von einem Tiefflieger beschossen und getötet worden.
Webb war vor Kummer fast wahnsinnig geworden.
Schließlich war er aus seinem Haus in Phnom Penh geflüchtet und als Mann ohne Vergangenheit und ohne Zukunft in Saigon angekommen. Es war Alex Conklin gewesen, der den todunglücklichen, halb verrückten David Webb dort von der Straße geholt und einen erstklassigen Geheimdienstagenten aus ihm geformt hatte. In Saigon hatte Webb töten gelernt, hatte den eigenen Selbsthass nach außen projiziert und seinen Zorn gegen andere gerichtet. Nachdem ein Mitglied von Conklins Gruppe – ein bösartiger Gangster namens Jason Bourne
– als Spion enttarnt worden war, hatte Webb ihn liquidiert. Webb hatte die Identität Bournes hassen gelernt, aber in Wirklichkeit war sie oft genug seine Rettung gewesen. Jason Bourne hatte ihm häufiger das Leben gerettet, als Webb sich erinnern konnte. Eine amüsante Vorstellung, wenn sie nicht buchstäblich wahr gewesen wäre.
Jahre später, als sie beide nach Washington zurückgekehrt waren, hatte Conklin ihm einen langfristigen Auftrag erteilt. Als Geheimagent war er faktisch ein »Schläfer« gewesen und hatte den Namen Jason Bourne – eines lange toten, von allen vergessenen Mannes – angenommen. Drei Jahre lang war Webb Bourne gewesen: Er hatte sich in einen berüchtigten international agierenden Attentäter verwandelt, um einen extrem gewieften Terroristen zu fassen.
Aber in Marseille war sein Einsatz gründlich schief gegangen. Er war angeschossen und als vermeintlich Toter ins nachtdunkle Mittelmeer geworfen worden. Doch er war von der Besatzung eines Fischerboots aus dem Wasser gezogen und in dem Hafen, in dem sie ihn an Land gesetzt hatte, von einem Säufer von Arzt gesundgepflegt worden. Das einzige Problem war, dass er durch den Schock seines Beinahe-Todes das Gedächtnis verloren hatte. Langsam zurückgekehrt waren Bournes Erinnerungen. Erst viel später hatte er mit Hilfe seiner zukünftigen Frau Marie erkannt, dass er in Wirklichkeit David Webb war. Inzwischen war die Jason-Bourne-Persönlichkeit jedoch zu tief in ihm verwurzelt, zu mächtig und zu gerissen, um zu sterben.
Letztlich war er eine gespaltene Persönlichkeit geworden: David Webb, der Linguistikprofessor, mit einer neuen Frau und abermals zwei Kindern, und Jason Bourne, der von Alex Conklin zu einem erstklassigen Spion ausgebildete Geheimagent. In Krisensituationen hatte Conklin manchmal auf Bournes Talente zurückgegriffen, und Webb hatte widerstrebend seine Pflicht getan. Aber in Wirklichkeit hatte Webb seine Bourne-Persönlichkeit kaum unter Kontrolle. Was vorhin mit Rongsey und den drei Schlägertypen passiert war, war Beweis genug. Trotz Webbs endloser Therapie bei Panov hatte Bourne eine Art, sich in den Vordergrund zu drängen, gegen die Webb machtlos war.
Chan, der das Gespräch zwischen David Webb und dem kambodschanischen Studenten von jenseits des Innenhofs aus beobachtet hatte, verschwand in dem Gebäude schräg gegenüber der Healy Hall und stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Da er wie die meisten Studenten gekleidet war und viel jünger als seine siebenundzwanzig Jahre aussah, würdigte ihn niemand eines zweiten Blicks. Zu seiner Khakihose trug er eine Jeansjacke und über einer Schulter einen sehr geräumigen Rucksack. Seine Laufschuhe quietschten nicht, als er an den Türen von Seminarräumen vorbei den Flur entlangging.
Vor seinem inneren Auge stand ein klares Bild des Blicks über den Innenhof. Er berechnete wieder Winkel, wobei er berücksichtigte, dass die alten Bäume sein Ziel verdecken könnten.
Er machte vor der sechsten Tür Halt, hörte drinnen einen Professor dozieren. Seine Ausführungen über Ethik nötigten Chan ein ironisches Lächeln ab. Seiner Erfahrung nach – die groß und vielseitig war – war Ethik so tot und sinnlos wie Latein. Er ging zum nächsten Raum weiter, der frei war, wie er bereits erkundet hatte, und trat ein.
Nun bewegte er sich rascher, schloss die Tür hinter sich, sperrte ab, durchquerte den Raum, öffnete eines der auf den Innenhof hinausführenden Fenster und machte sich an die Arbeit. Aus seinem Rucksack holte er ein 7,62-mm-Scharfschützengewehr SWD Dragunow mit
ausklappbarer Schulterstütze. Er setzte das Zielfernrohr auf und stützte die Waffe auf die Fensterbank. Durchs
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