Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
DOMINIONS
Kanada
Nicht allein in Indien herrschte Kontinuität zwischen dem älteren und dem jüngeren Empire – das Gleiche gilt für Britisch-Nordamerika, das spätere Kanada. Doch während Indien im Koordinatensystem der Machtstrukturen nun ins Zentrum des britischen Uberseereiches rückte, lagen die noch verbliebenen nordamerikanischen Besitzungen nicht nur unter geographischem Blickwinkel eher an der äußeren Peripherie. Unter ökonomischen, demographischen und strategischen Gesichtspunkten war Britisch-Nordamerika von geringerer Bedeutung; es war nicht der Ort, wo man, wie etwa in Indien, Reichtümer oder Ruhm oder gar beides zusammen erwerben konnte. Dennoch blieb es angesichts des Verlustes der dreizehn Kolonien ein Prestigeobjekt – der handfeste Beweis dafür, daß mit der Unabhängigkeit der USA das Britische Empire weiterhin in Nordamerika präsent war. Und überdies wurde es zumindest mittelfristig zum Demonstrationsobjekt dafür, daß wegweisende Lehren aus der Vergangenheit gezogen wurden, insbesondere aus den Fehlern der britischen Kolonialpolitik, die zuvor die Revolte der amerikanischen Kolonien mitverursacht hatten. Vor allem hier in Kanada fand man zuerst Wege und Formen, wie sich koloniales Selbstregiment und übergeordnetes Interesse eines immer noch weiter expandierenden Empire miteinander vereinbaren ließen.
Die britische Kolonialpolitik und damit auch die Geschichte Kanadas war zunächst vor allem durch zwei besondere Umstände geprägt: zum einen durch die Tatsache, daß hier die Briten seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges nicht über eigene Siedler oder eine indigene Bevölkerung, sondern über Untertanen französischer Nationalität herrschten; zum andern dadurch, daß über lange Zeit die USA durch ihre bloße Existenz für British North America eine permanente Herausforderung und zeitweilig durchaus eine unmittelbare Bedrohung an seiner Südgrenze darstellten. Die erste Verfassung der USA, die Konföderation vom 1. März 1781, hatte sogar in ihrem Artikel 11 bereits die nötigen Vorkehrungen für einen Beitritt Kanadas formuliert, und vieles spricht dafür, daß angesichts des rapide wachsenden Machtpotentials der USA die Kolonialmacht Großbritannien eine konsequent angestrebte Annexion Kanadas auf die Dauer nicht hätte verhindern können. Doch nachdem ein halbherziger amerikanischer Invasionsversuch während des kurzen Krieges mit Großbritannien (1812–1814) erfolgreich abgewehrt worden war, konnten weitere Differenzen über den Grenzverlauf künftig auf dem Verhandlungsweg beigelegt werden. Die wichtigste Voraussetzung für ein friedliches Nebeneinander war letztlich, daß der amerikanische Expansionsdrang naturgemäß eher nach Westen hin ausgerichtet war. Auf der anderen Seite wurden in Britisch-Nordamerika zwar gelegentlich Forderungen nach einem Anschluß an die prosperierende Republik erhoben, die jedoch angesichts der Gemengelage der politischen Strömungen innerhalb der Kolonie auf die Dauer keine politische Sogwirkung entfalten konnten. Vor allem aber trug die auf lange Sicht flexible Londoner Kolonialpolitik dazu bei, daß die Kanadier stets ihrem Status im Empire einer Verschmelzung mit den USA den Vorzug gaben.
Als im Frieden von Paris 1763 Großbritannien endgültig die französischen Siedlungen im Tal des St. Lorenz-Stroms erworben hatte und die Kolonie Québec ihrem Empire eingliederte, sollte diese wie seine übrigen amerikanischen Besitzungen nach englischem Recht und unter Beteiligung einer gewählten Volksvertretung verwaltet werden. Doch das Ziel einer raschen Assimilierung der französischen Bevölkerung ließ sich damit nicht verwirklichen; es kam vielmehr zu Konflikten mit neu zugewanderten Engländern, die die ihnen vertrauten Organe der Selbstverwaltung in ihrem Interesse zu nutzen suchten. Als 1770 der Gouverneur Carleton in seinem Bericht an die Regierung in London resümierte, daß die neu erworbene Kolonie in keiner Weise reif für die übliche Form der Kolonialverwaltung sei, wurde in der Québec Act des Jahres 1774 eine partielle Rückkehr zu den Formen und der Praxis des französischen Kolonialregiments vorgenommen. Ein Gouverneur und ein nominierter Rat von ca. 20 Mitgliedern regierten jetzt die Kolonie; die Volksvertretung war abgeschafft. Neben dem englischen Strafrecht galt weiterhin das französische Zivilrecht, das die ländlichen Besitzverhältnisse nach dem Muster der französischen Grundherrschaft regelte. Vor allem wurden die
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