Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
ihre Herrschaft nun erst recht auf die natürliche Überlegenheit ihrer angelsächsischen ‹Rasse› gründeten, eine unsichtbare Schranke zwischen Indern und Briten errichtet wurde und das Konzept der Treuhandschaft mit dem Fernziel einer graduellen Assimilation in den Hintergrund trat. Vielmehr war gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Mehrzahl der Briten entschlossen und bereit, die ‹Bürde des weißen Mannes› noch auf unabsehbare Zeit hin zu tragen. Gleichzeitig wurden Konsequenzen für die politische Praxis gezogen. Mit der endgültigen Auflösung der East India Company übernahm jetzt mit der India Act des Jahres 1858 der britische Staat endgültig die unmittelbare Verantwortung für seine Herrschaft über 250 Millionen Inder. Die ehemaligen Besitzungen der Gesellschaft gingen an die Krone, in deren Auftrag fortan ein Minister mit seinem India Office und ein aus 15 Mitgliedern bestehender Rat (Council of India) die Geschäfte führten. In Indien erhielt der Generalgouverneur den Rang eines Vizekönigs, und das britische Parlament verlieh 1877 dem Antrag Disraelis folgend Königin Viktoria den Titel einer ‹Empress of India›. Gleichzeitig verstärkte man die Bemühungen um die Konsolidierung der Herrschaft. Da erst kürzlich unterworfene indische Fürsten wesentlich zu dem Aufstand beigetragen hatten, wurde künftig auf weitere Annexionen indischen Territoriums verzichtet. Statt dessen beließ man insgesamt 562 noch bestehenden indischen Fürstentümern formal ihre Unabhängigkeit. Und während sie, wie einst den Mogulkaiser, nun die britische Monarchin als ihr Oberhaupt anerkannten, übten an ihren Höfen britische Gesandte als ‹Berater› de facto die Macht aus.
Das Rückgrat der britischen Kolonialmacht blieb auch nach 1858 und nun erst recht die Armee. Hier zog man die Konsequenzen aus den Erfahrungen des Aufstands und verstärkte den Anteil des britischen Personals, so daß das Verhältnis von Engländern zu Indern nun 1: 2 betrug (74.000 zu 150.000 im Jahr 1910) und das 2700 Mann starke Offizierskorps nur aus Briten bestand. Hinzu kamen noch Reserveeinheiten in einer Gesamtstärke von knapp 90.000. Damit bildete die indische Armee in Friedenszeiten die größte militärische britische Einheit im Empire und wurde mit der Zeit zunehmend auch außerhalb des indischen Territoriums eingesetzt: u.a. 1860 in China, 1868 in Abyssinien, 1878 in Afghanistan, 1882 in Ägypten und seit 1893 in verstärktem Maße auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen in Afrika, zuletzt besonders im Burenkrieg. Am Ende des Ersten Weltkrieges waren es schließlich 1,3 Mio. Soldaten, die in britischen Diensten ihre Heimat Indien verlassen hatten.
In deutlichem Unterschied zum amerikanischen Kolonialreich des 18. Jahrhunderts, dessen Ausbau schließlich an dem Problem einer angemessenen Finanzierung gescheitert war, kostete diese Armee ebenso wie die gesamte Verwaltung Britisch-Indiens den britischen Steuerzahler keinen Penny. Diese Kosten wurden vielmehr aus dem indischen Steueraufkommen bestritten, und wenn dieses nicht ausreichte, war man zunächst zu neuen Eroberungen geschritten oder erhob von besiegten Fürsten zusätzliche Tributzahlungen. Später nahm man Kredite in England auf, wobei deren Zinsen sowie die Zahlungen für Gehälter, Pensionen und die dem Staat garantierte Dividende der Kompanie einen kontinuierlichen, ständig wachsenden Kapitalabfluß von Indien nach England verursachten. Entsprechend wuchs die Verschuldung Britisch-Indiens von 7 Mio. Pfund im Jahr 1792 auf den zehnfachen Betrag im Jahr 1857 und erreichte 1902 den Stand von über 226 Mio. Pfund. Zu dieser Zeit waren jährlich ca. 20 Mio. Pfund nach England zu überweisen, die nahezu 25 % des jährlichen Budgets der Indien-Regierung ausmachten. Wann immer Engländer selbstbewußt darauf verwiesen, welche Vorzüge Indien durch die britische Kolonialherrschaft und hier speziell durch deren effektive und unbestechliche Verwaltung erfuhr, so blieb unerwähnt, daß die Inder für dieses Privileg teuer bezahlen mußten.
Neben seiner Funktion als machtpolitisches Zentrum des jüngeren Empire fiel die Kosten-Nutzen-Bilanz der Herrschaft über Indien auch unter ökonomischem Aspekt zugunsten Großbritanniens aus. Der liberale Imperialist Charles Dilke schätzte 1890, daß die Briten jährlich «sechzig bis siebzig Millionen Pfund Einkommen aus Indien» bezögen,[ 15 ] und selbst wenn sich genauere Berechnungen der Höhe des Kapitalabflusses von
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