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Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)

Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)

Titel: Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wende
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Indien nach England kaum erstellen lassen und deswegen in ihren Ergebnissen umstritten sind, bleibt die Frage relevant, ob bzw. inwieweit die britische Kolonialherrschaft sich für die Entwicklung Indiens vorteilhaft oder nachteilig ausgewirkt habe. Dabei verdient die bereits im 19. Jahrhundert intensiv diskutierte These, wonach die britische Kolonialherrschaft nachhaltig die indische Modernisierung aufgehalten habe, besondere Beachtung. Ihr zufolge habe Indien im 18. Jahrhundert als wirtschaftlich fortgeschrittene Gesellschaft, deren Produkte nicht nur in Asien, sondern auch in Europa gefragt waren, an der Schwelle einer eigenständigen Industrialisierung gestanden, deren ‹take-off› dann aber durch den Einbruch der europäischen Kolonialmacht verhindert und das Land so in seiner historischen Entwicklung entscheidend zurückgeworfen worden sei. Nun lassen sich dergleichen Hypothesen nur durch Spekulationen bekräftigen, d.h. durch den Vergleich mit einer Geschichte, wie sie nicht stattgefunden hat, sondern lediglich stattgefunden haben könnte. Doch immerhin läßt sich nicht bestreiten, daß Indien zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom Exporteur hochwertiger Baumwollfertigwaren nach England zum Importeur britischer Textilien wurde – 1896 gingen knapp 40 % des britischen Baumwollexports nach Indien. Vielmehr förderte die Kolonialmacht dort nun systematisch den Anbau von Baumwolle, so daß hier eine Umkehrung der Handelsbeziehungen zugunsten des klassischen Musters stattfand, demzufolge die Kolonie Rohstoffe exportiert und Fertigwaren der Kolonialmacht importiert. Hierzu hatte Großbritannien vor allem dadurch beigetragen, daß indische Baumwollwaren in England bis 1832 mit hohen Einfuhrzöllen (ca. 50 %) belegt waren, englische Produkte hingegen in Indien nur mit 5 % verzollt werden mußten, so daß, als der Freihandel schließlich eingeführt wurde, die britische ökonomische Dominanz bereits etabliert war.
    Dagegen lassen sich andere Rechnungen aufstellen, nach denen die britischen Textilimporte den indischen Bedarf nur zu einem Teil decken konnten und die heimische Industrie keineswegs ruiniert hätten. Und wenn auch Indien gegenüber Großbritannien eine passive Handelsbilanz aufwies, so fiel diese nicht nur gegenüber Drittländern, sondern insgesamt positiv aus. 1913/1914 z.B. betrug das Handelsdefizit gegenüber Großbritannien zwar 59 Mio. Rupien, aber insgesamt hatte Indien in diesem Jahr ein positives Saldo von 66 Mio. erwirtschaftet. Dergleichen Erfolge waren nicht zuletzt auch auf den beträchtlichen Umfang britischer Investitionen in die Landwirtschaft – etwa durch den Ausbau von Bewässerungssystemen – in den Aufbau einer indischen Industrie – neben Baumwolle und Jute besonders Kohleförderung – sowie in die Infrastruktur des Landes zurückzuführen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf den durch Gouverneur Dalhousie 1853 initiierten Eisenbahnbau verwiesen, der bis 1914 Indien mit einer Gesamtlänge von 56.300 km das größte Streckennetz Asiens bescherte. Doch dieses war den englischen Interessen folgend auf die Häfen hin ausgerichtet bzw. an strategischen Gesichtspunkten orientiert und konnte so weniger als anderswo zum Motor einer umfassenden indischen Industrialisierung werden. Außerdem profitierten die britische Stahlindustrie und insbesondere die britischen Aktionäre von dem Unternehmen, in das der Löwenanteil der britischen Investitionen geflossen war.
    Derartige buchhalterische Berechnungen, über deren Stimmigkeit und Reichweite sich trefflich streiten läßt, werden aus der Rückschau aufgestellt – für die Stabilität der britischen Herrschaft in Indien sind sie jedoch wenig aussagekräftig. Hier war nach wie vor entscheidend, wie sich das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten in der Praxis gestaltete und wie das britische Kolonialregiment von den Einheimischen wahrgenommen wurde. Dieses war nach dem Aufstand nun erst recht am Konzept einer paternalistischen Autokratie ausgerichtet. Gleichzeitig stieg mit den parallel zur Modernisierung Indiens stetig wachsenden Aufgaben der Bedarf an Kollaborateuren, an qualifizierten einheimischen Kräften. Und dabei sollte sich in Zukunft die Frage stellen, ob diese Kollaborateure bereit sein würden, in den Dienst der britischen Kolonialherren zu treten und dies zugleich als Dienst an Indien und Indiens Zukunft zu verstehen, ohne auf Selbst- oder zumindest Mitbestimmung zu bestehen.

 
    3. DIE ERSTEN

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