Das Buch aus Blut und Schatten
erst aufhören wird, wenn du nachgibst«, meinte Adriane. »Du solltest mitkommen. Wir können uns einen Film ansehen oder was anderes machen.«
Es war verlockend, aber im Vergleich zu dem, was mich an diesem und an jedem anderen Abend erwartete â das leere Haus, die geschlossenen Türen, die unsichtbaren Bewohner und die unausgesprochenen Worte â, wäre selbst eine Wurzelbehandlung noch verlockend gewesen. Es gab einen Grund dafür, warum ich so viel Zeit bei Adriane zu Hause und in Chrisâ Studentenzimmer verbrachte. Aber vielleicht war es zu viel Zeit. Er war mein bester Freund; sie war meine beste Freundin. Okay, es war gut möglich, dass ich mir zu viele Gedanken darüber machte, ob die beiden nicht darauf warteten, dass ich endlich mal ging, wenn ich mit ihnen zusammen war. Aber manchmal tat ich es eben doch, sozusagen prophylaktisch.
»Ich kann nicht«, sagte ich zu ihm. »Heute nicht.«
»Du arbeitest zu viel«, erwiderte Chris, während er mir einen kleinen Schubs gab.
Ich wedelte mit meinem fast leeren Notizblock vor seinem Gesicht herum. »Da hast du den Gegenbeweis.«
»Sicher?«, fragte er.
Ich nickte, und als sie ihre Finger ineinanderschoben und mich zurücklieÃen, versuchte ich, so auszusehen, als hätte ich gerade etwas gewonnen, auch wenn es sich genau wie das Gegenteil anfühlte.
»Das muss ziemlich merkwürdig für dich sein.« Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Max etwas sagte. Seine Stimme war leise und etwas dünn, aber gar nicht einmal so unangenehm.
»Wie bitte?« Mein Tonfall war abweisend. Mich wie ein unerwünschtes Anhängsel zu fühlen, war eine Sache, aber wenn jemand, der praktisch ein Fremder war, meinen Verdacht bestätigte, war das etwas ganz anderes.
»Nichts.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und hob nicht einmal den Kopf, als ich meine Sachen zusammensuchte und mich dick einpackte, um in den frostigen Oktoberabend hinauszugehen. Max sah mich auch nicht an, als er, den Blick auf die alten Pergamentseiten gerichtet, sagte: »Komm gut nach Hause.«
Bis jetzt war ich immer gut nach Hause gekommen.
9 Chris hatte recht. Ich arbeitete wirklich zu viel, aber nur, weil das eine wirksame Methode war, um die Zeit zu Hause mit einem Minimum an Grübelei, Erinnerungen, Bedauern und diversen anderen unschönen Aktivitäten zu überstehen. Zu denen kam es aber fast unweigerlich, wenn ich die verblassenden Kindergartenzeichnungen meines Bruders, die hastig hingekritzelten Nachrichten meiner Mutter, die wieder einmal das Abendessen versäumt hatte, oder die geschlossene Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters sah. Und ich hätte mich vielleicht auch dann mit Elizabeths Briefen beschäftigt, wenn ich nicht sowieso schon leichte Gewissensbisse wegen des vertrödelten Nachmittags gehabt hätte, da Ãbersetzen die Welt auf eine einzelne Seite, eine Zeile, ein Wort nach dem anderen reduzierte. Es nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und genau das brauchte ich jetzt.
Ich werde Dir nicht von unserer Reise berichten.
Wir haben überlebt, das ist alles, was Du wissen musst. Wir versteckten uns, wenn es notwendig war, wir aÃen, wenn es etwas zu essen gab, und hungerten, wenn es nichts zu essen gab. Wir sind erschöpft und mittellos hier angekommen, vor Schmutz starrend und geschwächt, voller Scham über unsere missliche Lage. Aber wir sind angekommen, liebster Bruder. Wir sind zurück. Ich hatte schon befürchtet, Prag sei nichts weiter als ein Traum. Jetzt weià ich, dass es diese Stadt wirklich gibt, und ich glaube, sie ist ein neuer Anfang.
Ich schwöre Dir, dass Angst und Kummer mich nicht besiegen werden. Unsere Mutter braucht mich und ich werde sie weder enttäuschen noch vor dieser Bürde zurückschrecken. Es gibt wenig Grund für das Bedauern, das Du in Deinen Briefen zum Ausdruck bringst, denn Dein Studium hat Vorrang. Dir obliegt es, Ruhm und Ehre unserer Familie aufrechtzuerhalten, ich dagegen habe mich um häusliche Angelegenheiten zu kümmern, um unser Eigentum, unser Heim, unsere Mutter. Wir haben eine provisorische Unterkunft gefunden und sicher ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich den Kaiser überzeugen kann, unsere Besitztümer freizugeben. In Zeiten gröÃter Hoffnungslosigkeit habe ich Deine Briefe, die mich wieder aufrichten, und ich habe meine Gedichte. Natürlich ist mir bewusst, dass sie nicht
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