Das Buch aus Blut und Schatten
viel mehr sind als eine Petitesse. Aber Du weiÃt besser als jeder andere, wie meine Seele sich in ihren Träumen verliert, und ich gebe zu â allerdings nur Dir gegenüber â, dass ich in manchen Nächten wach liege und mir vorstelle, der wiedergeborene Ovid zu sein. Meine Gedichte sind nichts als Worte, so wie Deine Briefe nichts als Worte sind, nur Tinte auf Pergament, und doch sind es Worte, die mich immer wieder zu retten vermögen. Ich hoffe, Du liest diesen Brief bei guter Gesundheit und in Kenntnis meiner ewigen Liebe.
Adieu.
Prag, 15. August 1598
Sie machte ihm keine Vorwürfe, weil er gegangen war; sie gestattete sich keine Vorwürfe, weil Brüder immer gingen. Ich verstand mehr, als ich wollte, von dem, was im Kopf dieses toten Mädchens vorging. Ein Zuhause, das sich wie ein Gefängnis anfühlte, ein Exil, das Strafe und Befreiung zugleich war. Den Entschluss, trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass ihr nichts mehr geblieben war â auÃer einer nutzlosen Mutter, einem unsichtbaren Vater und einem abwesenden Bruder â, einfach weiterzumachen und zu tun, was getan werden musste.
Ich erlaubte mir etwa drei Minuten für ein trauriges kleines Melodram und malte mir aus, ich wäre sie. Von der jungen Elizabeth waren keine Bilder erhalten, daher konnte ich mir problemlos vorstellen, wie mein Kopf aus einem zerschlissenen Renaissancekleid ragte, wie ich einen Gefängnisturm umrundete, wie ich meine Mutter durch Morast und Flusstäler schleppte, durch Wälder und öde Landschaften oder was auch immer einem auf dem Weg nach Prag so begegnete. Drei Minuten, dann war Schluss damit.
Ihr Gefängnis war keine Metapher, es war eine Burg, in der ihr in Ungnade gefallener Stiefvater die letzten drei Jahre seines Lebens verbracht hatte. Ihre Geldprobleme lieÃen sich nicht mit einem Stipendium â für eine Schule, deren Besuch man ihr mit Sicherheit verboten hätte â und einem Gutschein für das nächstgelegene Einkaufszentrum lösen. Ihr Vater war nicht unsichtbar, er war tot; ihr Bruder war es nicht. Wir hatten nichts miteinander gemein.
Das war das Seltsame am Ãbersetzen: Man drückte die Worte eines anderen aus, in seiner eigenen Stimme, die doch nicht ganz die eigene war. Man konnte sich etwas vormachen und glauben, dass man die Bedeutung hinter den Worten verstand, aber â wie mir mein Vater erklärt hatte, bevor ich alt genug war, um es zu verstehen â Worte und Bedeutung waren untrennbar miteinander verbunden. Sprache formt die Gedanken; ich spreche, also denke ich, also bin ich. Elizabeths Briefe, geschrieben in einer Sprache, die schon Jahrhunderte vor ihrer Geburt gestorben war, hatten bereits eine gewisse Distanz zu ihrem Leben. Sie Wort für Wort in einem Wörterbuch nachzuschlagen und in meine Sprache zu übertragen, bedeutete, dass unweigerlich etwas von mir in Elizabeth sein würde. Es bedeutete nicht, dass etwas von ihr in mir war.
10 Sie war Dichterin. Sogar eine einigermaÃen berühmte, auch wenn weder ich noch sonst jemand sie kannte. Und obwohl sie in England geboren worden war, die meiste Zeit ihres Lebens in Prag verbrachte und obendrein auch noch flieÃend Deutsch sprach, schrieb sie ausschlieÃlich auf Latein. Als Frau im Europa des 16. Jahrhunderts musste man vielleicht einen linguistischen Ãberlegenheitskomplex entwickeln, wenn man auch noch für etwas anderes ernst genommen werden wollte als dafür, mit wem man schlief und wen man gebar. Oder vielleicht hatte die Sprache ohne Volk dem Mädchen ohne Zuhause einfach nur gefallen.
Je mehr ich von ihren Briefen las, desto mehr wollte ich über sie wissen, aber es war nicht viel zu finden. Berühmt oder nicht, Elizabeth Weston war ein historischer Schatten, der über die offiziell bedeutenden Leben von Edward Kelley und Kaiser Rudolf II. huschte und nur gelegentlich in der feministischen Geschichtswissenschaft oder in Anthologien neulateinischer Literatur auftauchte. Es gab keine eigenständige Biografie für sie und â den spärlichen Informationen in ihrem Eintrag bei Wikipedia nach zu urteilen â auch keine fanatischen Amateure, die Westonia-Trivialwissen horteten und dafür kämpften, sie mitsamt ihres Werks ins Rampenlicht zu stellen. Die einzige Möglichkeit, Elizabeth kennenzulernen, bestand darin, sich mit ihren Briefen zu beschäftigen.
Und so entwickelte sich eine Routine. Dreimal die
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