Das Buch Der 1000 Wunder
Datums der Vergangenheit oder Zukunft, sowohl aus diesem Jahrhundert als auch aus früheren oder späteren Jahrhunderten vom Beginn der christlichen Zeitrechnung an. –
Bei der Beurteilung des Schwierigkeitsgrads ergeben sich Undurchsichtigkeiten. So wird wohl jeder Laie das Ausziehen einer 5ten Wurzel für schwieriger erachten als das einer Kubikwurzel. Aber gerade bei der 5ten Wurzel liegt für den Kopfrechner eine aus mathematischer Quelle erfließende, 30 ganz entscheidende Erleichterung vor, die es selbst einem sehr mäßig veranlagten Kopf gestattet, das Kunststück auszuführen. Die fünfte Potenz jeder Zahl hat nämlich dieselbe Schlußziffer wie die Zahl selbst. Diese Kenntnis in Verbindung mit einer ziemlich einfachen Gedächtnishilfe gibt in jedem Fall den Schlüssel für jede vorgelegte, höchstens 10zifferige Zahl.
Hierauf beruhte das Glanzstück des Wunderknaben Frank , der damit alle Welt in Erstaunen setzte. Nur wenige Eingeweihte wußten, daß Frank gar nicht nötig hatte zu rechnen, sondern die Lösung als reines Kinderspiel mechanisch aufsagen konnte.
21. Laura Bridgman
Quellen: Fritz Mauthner: »Kritik der Sprache«. Verlag Cotta, Stuttgart, 1901. – Dr. W. Jerusalem -Wien: »Laura Bridgman«. 1891.
Dieses blinde, taube und ursprünglich stumme Geschöpf ist ein berühmtes Objekt für Seelenanalyse geworden. Ihm hat Dr. Wilhelm Jerusalem eine ausführliche Monographie gewidmet, die wiederum Fritz Mauthner in seiner Kritik der Sprache Veranlassung zu einer hier im losen Auszug mitzuteilenden Studie gab.
Laura Bridgman, die arme dreisinnige Amerikanerin, war etwa 12 Jahre alt, als sie erfuhr, daß sie sich von anderen Kindern unterschied und daß sie nur drei Sinne besaß, nämlich den Tastsinn und außerdem ein bischen Geruch und Geschmack. Sie hatte damals schon das Wort denken (
think
) halb als Verbum, halb als Substantiv kennen gelernt und gebrauchte es auffallend häufig für die Anstrengung des Denkens, die sie lokalisiert in ihrem Kopf empfand. So sagte sie z. B.: »Mein Denken ist müde.« Als sie nun erfuhr, sie habe nur drei Sinne, rief sie (der Ausdruck »rufen« ist wohl nur als abkürzendes Wort zu verstehen): »Ich habe vier Sinne: Denken und Nase und Mund und Finger« . . . Das Denken war ihr etwa ein Substantiv, und sie konnte den Kopf gar wohl als das Sinneswerkzeug der Denkarbeit betrachten, wie die Nase als Sinneswerkzeug der Geruchsarbeit.
Lauras Gedächtnis war außerordentlich gut entwickelt. In ihrem vierzehnten Lebensjahr wurde ihr mittels der Fingersprache ein kindliches Lesestück vorgelesen, und Laura mußte es am nächsten Tag aus dem Gedächtnis niederschreiben. Diese Niederschrift hält sich im wesentlichen so genau an das Original, daß eine solche Leistung einem vollsinnigen Kind gleichen Alters nicht immer gelingen würde. Laura ist also ein Beweis dafür, daß ein außerordentliches Gedächtnis alle oder doch die meisten Assoziationen, deren Verbindungen unsere 31 Welterkenntnis oder Sprache ausmachen, auch ohne Gesicht und Gehör an den Tastsinn binden kann.
Aus Anlaß eines besonderen Falls von Taubstummheit in Verbindung mit einem operierten Staarblinden, der zunächst eine Kugel und einen Würfel nicht unterscheiden konnte, bemerkt der bedeutende La Mettrie: wäre der Taubstumme auch noch blind gewesen, so wäre er ganz ohne Ideen geblieben. Diese Behauptung kann durch die Geschichte der Amerikanerin als widerlegt gelten. Ein Wesen wie Laura Bridgman wäre freilich kaum glaubhaft erschienen, hätte sie nicht wirklich gelebt und gelehrte Zeitgenossen in Erstaunen gesetzt.
Zum Kapitel der Ersatz-Sinne gehört auch der Fall einer anderen Taubstummblinden, Julia Brace . Als sie zu Doktor Howe, dem Lehrer der Bridgman, kam, war sie schon zu alt, um noch sprechen zu lernen. Dafür hatte sie ihren Geruch in Stellvertretung so ausgebildet, daß sie aus einem Haufen Handschuhe ein zusammengehörendes Paar und sogar die Handschuhe zweier Schwestern herausfinden konnte.
Allerdings wird das Innenleben dieser Julia für einen vollsinnigen Menschen schwer vorzustellen sein. Und wir finden keine Begriffsbrücke zu ihrer Leidensschwester Laura, die sich doch an die immerhin artikulierteren Tastempfindungen halten konnte bis zu dem Grad, daß sie in der Fingersprache Selbstgespräche hielt und sogar in der Fingersprache träumte!
22. Die Entzifferung der Hieroglyphen
Quelle: Dr. Adolph Ermann: »Die Hieroglyphen«. G. J. Göschensche Verlagshandlung
Weitere Kostenlose Bücher