Das Buch Der 1000 Wunder
wandeln können, geistige Arbeiten verrichten, die sie im wachenden Zustand nicht zu bewältigen vermögen, Bücher in fremden Sprachen lesen, die sie nie gelernt haben.
Alle solche Berichte stammen aber von Menschen, auf deren Beobachtungsgabe und Urteilskraft man sich nicht verlassen kann. Der Zustand hat auch trotz der weitverbreiteten gegenteiligen Ansicht nichts mit irgend einer geheimnisvollen Wirkung des Monds zu tun. Der »Mondsüchtige« wandelt, ob das Gestirn scheint oder nicht scheint, ob es ab- oder zunimmt. Aber auch sonst begibt sich hier nichts Übersinnliches.
„Alles, was der Nachtwandler tut, versteht man, so schreibt Dr. Lehmann , von der Voraussetzung aus, daß er die Handlungen ausführt, von denen er träumt. Gewöhnlich beschränkt er sich darauf, an bekannten Stellen ein wenig umherzuwandeln, sich eine kurze Zeit mit seiner täglichen Arbeit zu beschäftigen und sich dann wieder ruhig ins Bett zu legen. Während seiner Wanderung ist er ganz beherrscht von seinen Traumbildern; er begreift nur das, was mit dem Traum in Verbindung steht. Es ist öfters beobachtet worden, daß der Nachtwandler wohl auf eine Anrede hört und antwortet, sofern sie mit seinen Traumvorstellungen in Verbindung steht; was aber darüber hinausgeht, faßt er garnicht auf.
Von dem Pharmazeuten Castelli, dessen häufige Anfälle von Nachtwandeln vom Arzt Soave genau beobachtet wurden, wird folgendes erzählt. Man traf ihn eines Nachts dabei, Italienisch ins Französische zu übersetzen. Er schlug Vokabeln in einem Lexikon auf und schien bei einem nahestehenden Licht zu sehen. Man löschte dieses Licht aus; er suchte nach ihm und zündete es wieder an; aber während er sich im Dunkeln zu befinden glaubte, war er in Wirklichkeit in einem hell erleuchteten Zimmer, da unterdessen andere Lichter angezündet worden waren. Er konnte jedoch bei diesen nicht sehen, weil er nicht wußte, daß sie brannten.
149 Es kann natürlich vorkommen, daß sich der Nachtwandler unter dem Einfluß seiner Traumbilder auf gefährlichen Plätzen, z. B. Dächern, bewegt, und zwar mit einer Sicherheit, die dem Menschen im Wachzustande abgeht. Es ist dies jedoch ganz begreiflich, wenn man bedenkt, daß der Nachtwandler nicht weiß, wo er sich befindet. Ein jeder Mensch kann selbstverständlich mit vollkommener Sicherheit in einer Dachrinne gehen, wenn sie auf dem Erdboden liegt. Befindet sie sich dagegen am Dach eines hohen Hauses, so stört ihn das Bewußtsein, daß er zwischen Himmel und Erde schwebt. Wenn der Nachtwandler nicht weiß, wo er ist, muß er ebenso sicher oben am Dach wie unten auf der Erde gehen können. Übrigens passiert es doch auch, daß ein Nachtwandler auf seiner nächtlichen Tour hinabstürzt, was nicht gerade für eine absolute Sicherheit spricht.”
Selten sind die Handlungen Schlafwandelnder zuverlässig beschrieben worden. Binz teilt einen verläßlichen Bericht aus der Feder eines Breslauer Arztes, des Medizinalrats Ebers, mit. Er betrifft dessen Pflegesohn, „einen muntern, aufgeweckten Knaben, der zur Zeit der Beobachtung elf Jahre alt war. Lautes Sprechen im Schlaf, Aufstehen zur Zeit des Vollmonds, zweckloses Umhergehen, automatisches Anfassen dieses oder jenes Gegenstands, ruhiges Ausweichen vor absichtlich hingestellten Hindernissen, Öffnen des Fensters und Hinausschauen, Unempfindlichkeit gegen vorgehaltenes Licht bei halbgeschlossenen Augen, ebenso gegen Anrufen, endlich freiwillige Rückkehr in das Bett und Mangel an Erinnerung des Traumwandelns, alles das ist klar und einfach beschrieben, aber es fehlt dem ganzen Verlauf jede Spur von Mystik.
Der Nachtwandler verstand keine fremde Sprache, nahm aber aus dem Repositorium unter anderm den Rousseau heraus, setzte sich hin und tat, als läse er darin. Welch prächtige Gelegenheit, das Erwachen höherer Geisteskraft im Traumwandeln zu konstatieren, das plötzliche Verständnis einer fremden Zunge! Ebers aber macht dazu die Bemerkung, der Wandler habe beim Blättern in diesem Buch ebenso automatisch ausgesehen, wie bei jedem andern; er könne nicht glauben, daß er auch in einem deutschen Buch irgend etwas gelesen habe. Als Ebers ihm einmal, nachdem er ihn eine halbe Stunde hatte wandeln lassen, mit der Reitpeitsche kräftig auf das Gesäß hieb, lief er schreiend in sein Bett; später scheint dann das Geräusch der Peitsche allein ausgereicht zu haben, das Aufstehen zu verhindern. Es wurden ferner wurmtreibende Mittel gegeben, worauf einige Würmer abgingen.
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