Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
ganz langsam auf das Schlüsselloch zu. Eine phantastische Einstellung, geheimnisvoll und bedrohlich: Die Öffnung wird immer größer und nimmt immer mehr Raum auf der Leinwand ein, und schließlich können wir in Hectors Büro hineinsehen. Und dann sind wir unvermittelt im Büro selbst, und da wir erwarten, es leer vorzufinden, kommt das, was die Kamera uns zeigt, vollkommen überraschend. Wir sehen Hector auf dem Schreibtisch liegen. Er ist immer noch bewusstlos, jedoch wieder sichtbar, und unser Versuch, diese plötzliche und wundersame Kehrtwende zu erklären, kann uns nur zu einem Schluss führen: Die Wirkung des Getränks hat nachgelassen. Eben haben wir Hector verschwinden sehen, und wenn wir ihn jetzt sehen können, kann das nur bedeuten, dass der Trank weniger stark war, als wir dachten.
    Allmählich kommt Hector zu sich. Dieses Lebenszeichen tröstet uns, wir fühlen uns wieder auf sicherem Boden. Wir nehmen an, die Ordnung sei ins Universum zurückgekehrt, und Hector werde sich nun daran machen, es Chase heimzuzahlen und ihn als Schurken zu entlarven. Es folgen gut zwanzig Sekunden, in denen er eine seiner komischsten, sarkastischsten Nummern abzieht. Wie jemand, der einen schlimmen Kater abzuschütteln versucht, erhebt er sich völlig benommen und orientierungslos von seinem Stuhl und taumelt im Zimmer umher. Wir lachen darüber. Wir glauben, was unsere Augen uns sagen, und da wir überzeugt sind, dass Hector wieder der Alte ist, vermag der Anblick seiner weichen Knie, seines benebelten Schwankens uns zu belustigen. Aber dann tritt Hector vor den Spiegel an der Wand, und alles ist wieder anders. Er will sich betrachten. Er will sich das Haar glatt streichen und seine Krawatte richten, doch als er in das spiegelnde Oval hineinblickt, ist sein Gesicht dort nicht zu sehen. Er hat kein Spiegelbild. Er betastet sich, um sich zu vergewissern, dass er existiert, dass er körperlich vorhanden ist, doch als er dann wieder in den Spiegel blickt, kann er sich immer noch nicht sehen. Hector ist verwirrt, aber er gerät nicht in Panik. Vielleicht stimmt ja etwas mit dem Spiegel nicht.
    Er tritt auf den Flur hinaus. Eine Sekretärin geht vorbei, ein Bündel Papier unterm Arm. Hector lächelt ihr zu und winkt freundlich, aber sie scheint ihn nicht zu bemerken. Hector zuckt die Achseln. Dann nähern sich aus der anderen Richtung zwei junge Angestellte. Hector schneidet ihnen eine Grimasse. Er knurrt. Er streckt die Zunge raus. Einer der Angestellten zeigt auf die Tür von Hectors Büro. Ist der Chef schon da?, fragt er. Keine Ahnung, antwortet der andere. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Als er das sagt, steht Hector natürlich unmittelbar vor ihm, kaum eine Handbreit von seinen Augen entfernt.
    Die Szene wechselt ins Wohnzimmer von Hectors Haus. Seine Frau geht unruhig auf und ab, ringt abwechselnd die Hände und weint in ihr Taschentuch. Zweifellos hat sie bereits gehört, dass Hector verschwunden ist. Chase kommt herein, der niederträchtige C. Lester Chase, der Urheber der teuflischen Intrige, die Hector um sein Limonadenimperium bringen soll. Heuchlerisch tröstet er die arme Frau, tätschelt ihr die Schulter und schüttelt in gespielter Verzweiflung den Kopf. Er zieht den mysteriösen Brief aus der Brusttasche und gibt ihn ihr mit der Bemerkung, den habe er am Morgen auf Hectors Schreibtisch gefunden. Schnitt auf den Brief in Großaufnahme. Meine herzlich Geliebte, beginnt der Brief. Bitte verzeih mir. Der Arzt sagt, ich leide an einer tödlichen Krankheit und habe nur noch zwei Monate zu leben. Um dir die Pein zu ersparen, habe ich beschlossen, mein Leben jetzt schon zu beenden. Um das Geschäft mach dir keine Sorgen. Bei Chase ist die Firma in guten Händen. Ich werde dich immer lieben. Hector. Es dauert nicht lange, bis diese Lügen und Täuschungen ihre Wirkung tun. In der nächsten Einstellung entgleitet der Brief den Händen der Frau und flattert zu Boden. Das alles ist zu viel für sie. Die Welt ist auf den Kopf gestellt, kurz und klein geschlagen. Keine Sekunde später fällt sie in Ohnmacht.
    Die Kamera folgt ihr auf den Fußboden und zeigt ihren reglos daliegenden Körper, der langsam in ein anderes Bild überblendet wird. Wir sehen Hector, der das Büro verlassen hat und durch die Straßen wandert, um sich mit dieser seltsamen, schrecklichen Sache zurechtfinden, die ihm da zugestoßen ist. Zum Beweis, dass es wirklich keine Hoffnung mehr gibt, bleibt er an einer belebten Kreuzung stehen und zieht sich

Weitere Kostenlose Bücher