Das Buch der Illusionen
des bekannten französischen Dramatikers Jean-Pierre Saint Jean de la Pierre. Als sie den Lastwagen aufmachen und die Requisiten ausladen und ins Theater tragen wollen, stellen sie fest, dass die Sachen verschwunden sind. Was tun? Ohne Requisiten können sie nicht spielen. Es gilt, ein komplettes Zimmer zu möblieren, zu schweigen von etlichen wichtigen Kleinigkeiten, die zu ersetzen sind: ein Gewehr, ein Diamanthalsband, ein gegrilltes Schwein. Der Vorhang soll am nächsten Abend um acht Uhr hochgehen, und falls es ihnen bis dahin nicht gelingt, die komplette Ausstattung zusammenzubringen, sind sie aus dem Geschäft. Der Direktor der Truppe, ein aufgeblasener Wichtigtuer mit Ascot-Krawatte um den Hals und Monokel im linken Auge, späht in den leeren Lastwagen hinein und kippt ohnmächtig um. Die Sache liegt in Hectors Händen. Nach einigen schnellen, aber beißenden Kommentaren seines Schnurrbarts erwägt er in aller Ruhe die Lage, streicht sich den makellos weißen Anzug glatt und macht sich schnurstracks an die Arbeit. In den nächsten neuneinhalb Minuten veranschaulicht der Film Proudhons bekanntes anarchistisches Diktum: Eigentum ist Diebstahl. In einer Reihe kurzer, hektischer Episoden rennt Hector durch den Ort und klaut die Requisiten zusammen. Er fängt eine für das Lager eines Kaufhauses bestimmte Möbellieferung ab und zieht mit Tischen, Stühlen und Lampen von dannen - die er in seinen Wagen verstaut und sogleich zum Theater fährt. Aus einer Hotelküche lässt er Silberbesteck, Trinkgläser und ein komplettes Porzellangeschirr mitgehen. Er schwindelt sich mit dem gefälschten Bestellformular eines Restaurants ins Hinterzimmer einer Metzgerei und stapft mit einem geschlachteten Schwein auf der Schulter wieder ins Freie. Am Abend, auf einem Privatempfang für die Schauspieler, zu dem die prominentesten Bürger der Stadt geladen sind, gelingt es ihm, dem Sheriff die Pistole aus dem Holster zu ziehen. Ein wenig später macht er sich an eine korpulente Frau heran, und verzückt von der verführerischen Macht seines Charmes, bemerkt sie gar nicht, dass er den Verschluss ihres Halsbandes löst. Nie ist er so ölig wie in dieser Szene. Verächtlich in seiner Verstellung, abscheulich in der Heuchelei seiner Leidenschaft, kommt er auch als heldenhafter Outlaw rüber, als Idealist, der bereit ist, sich für die gute Sache zu opfern. Wir schrecken vor seiner Taktik zurück, zugleich aber beten wir, dass ihm der Diebstahl gelingen möge. Die Show muss weitergehen, und wenn Hector die Klunker nicht an sich bringt, gibt es keine Show. Um die Affäre noch komplizierter zu machen, hat Hector soeben die Stadtschönheit entdeckt (zufällig die Tochter des Sheriffs), und noch während er seine amouröse Attacke auf den alternden Drachen fortsetzt, beginnt er der jungen Schönen verstohlene Blicke zuzuwerfen. Zum Glück stehen Hector und sein Opfer hinter einem Samtvorhang, der halb eine offene Tür verdeckt, durch die man aus der Eingangshalle in den Salon gelangt. Hector hat so neben der Frau Aufstellung genommen, dass er, wenn er den Kopf nur ein wenig nach links bewegt, in den Salon hineinspähen kann. Die Frau aber bleibt außer Sicht, und so kann Hector das Mädchen sehen, und das Mädchen kann Hector sehen und ahnt doch nichts von der Frau neben ihm. Dies erlaubt ihm, seine beiden Ziele auf einmal zu verfolgen - die falsche Verführung und die echte -, und indem er mit einer raffinierten Mischung aus Schnitten und Perspektivwechseln das eine gegen das andere ausspielt, macht jedes dieser Elemente das andere weitaus komischer, als es für sich allein gewesen wäre. Das ist wesentlich für Hectors Stil. Ein Witz allein reicht ihm nie. Sobald eine Situation geschaffen ist, muss ihr noch etwas anderes hinzugefügt werden, und dann ein Drittes und womöglich gar ein Viertes. Hectors Gags entfalten sich wie musikalische Kompositionen, das Ganze ist ein Ineinanderfließen kontrastierender Handlungsstränge und Stimmen, und je mehr die Stimmen sich wechselseitig beeinflussen, desto unsicherer und instabiler wird die Welt. In Der Requisiteur kitzelt Hector die Frau hinter dem Vorhang am Hals, spielt mit dem Mädchen im Nebenzimmer Verstecken und zieht schließlich der Frau das Halsband ab, als ein vorbeieilender Kellner auf dem Saum ihres Gewandes ausrutscht und ihr ein Tablett voller Getränke über den Rücken schüttet - was Hector gerade genug Zeit verschafft, das Schloss aufzumachen. Er hat erreicht, was er sich
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