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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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bis auf die Unterwäsche aus. Er führt einen kleinen Tanz auf, geht auf den Händen, streckt den vorbeifahrenden Autos seinen Hintern entgegen, und als niemand ihn beachtet, steigt er missmutig wieder in seine Kleider und schlurft davon. Jetzt erst scheint Hector sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Er wehrt sich nicht gegen seinen Zustand, sondern versucht, ihn zu verstehen, und statt nach einem Weg zu suchen, sich wieder sichtbar zu machen (zum Beispiel könnte er ja Chase zur Rede stellen oder ein Gegenmittel aufspüren, das die Wirkung des Getränks rückgängig machen würde), unternimmt er eine Reihe abstruser spontaner Experimente, um herauszufinden, wer er ist und was aus ihm geworden ist. Urplötzlich -mit einer blitzschnellen Handbewegung - schlägt er einem Passanten den Hut vom Kopf. So ist das also, scheint Hector sich zu sagen. Ein Mensch kann für alle anderen unsichtbar sein, aber sein Körper hat immer noch einen direkten Bezug zur Welt. Wieder nähert sich ein Fußgänger. Hector streckt den Fuß aus und bringt ihn zu Fall. Ja, seine
    Hypothese ist offenbar richtig, aber das bedeutet nicht, dass er auf weitere Untersuchungen verzichten kann. Allmählich freundet er sich mit seiner Aufgabe an: Er hebt den Rock einer Passantin hoch und betrachtet ihre Beine. Eine andere Frau küsst er auf die Wange. Eine dritte auf den Mund. Er streicht ein Stoppschild durch, und gleich darauf stößt ein Motorrad mit einer Straßenbahn zusammen. Er schleicht hinter zwei Männern her, tippt beiden auf die Schulter und tritt sie ans Schienbein, bis sie sich zu prügeln anfangen. Diese Streiche haben etwas Grausames und Kindisches, aber auch etwas sehr Befriedigendes, und jeder fügt der Beweismasse eine weitere Tatsache hinzu. Als Hector einen Baseball aufhebt, der ihm auf dem Bürgersteig entgegenrollt, macht er seine zweite wichtige Entdeckung. Wenn ein Unsichtbarer ein Ding in die Hand nimmt, wird es ebenfalls unsichtbar. Es schwebt nicht in der Luft, sondern wird verschluckt, verschwindet in demselben Nichts, das den Mann selbst umgibt: sobald es in diese Zaubersphäre eintritt, ist es weg. Der Junge, der den Ball verloren hat, läuft zu der Stelle, wo er seiner Meinung nach gelandet sein muss. Nach den Naturgesetzen müsste der Ball dort sein, aber da ist er nicht. Der Junge steht vor einem Rätsel. Als Hector das sieht, legt er den Ball auf den Boden und geht davon. Der Junge lässt den Kopf hängen, aber siehe da, da ist der Ball ja wieder, gleich vor seinen Füßen. Wie ist das nur möglich? Eine Nahaufnahme vom verdutzten Gesicht des Jungen schließt diese kleine Episode ab.
    Hector biegt um die Ecke und schreitet den nächsten Boulevard hinunter. Sogleich wird er Zeuge eines abstoßenden Vorfalls, einer Tat, die einen in Rage bringen muss. Ein dicker, gut gekleideter Herr stiehlt einem blinden Zeitungsverkäufer ein Exemplar des Morning Chronicle . Der Mann hat kein Kleingeld dabei, und da er es eilig hat, zu eilig, um sich auf einen Schein herausgeben zu lassen, greift er sich einfach eine Zeitung und geht weiter. Empört läuft Hector ihm nach, und als der Mann an einer Ampel stehen bleibt, klaut Hector ihm das Portemonnaie aus der Tasche. Das ist komisch und verstörend zugleich. Wir haben nicht das geringste Mitleid mit dem Opfer, wundern uns aber sehr, wie unbekümmert Hector das Gesetz in die eigene Hand genommen hat. Auch als er zu dem Kiosk zurückgeht und dem blinden Verkäufer das Geld gibt, beruhigt uns das noch nicht ganz. In den ersten Sekunden nach dem Diebstahl werden wir zu der Annahme verführt, Hector werde das Geld für sich behalten, und in diesem kleinen, finsteren Zeitraum begreifen wir, dass er die Brieftasche des Dicken nicht gestohlen hat, um ein Unrecht wieder gutzumachen, sondern einfach, weil er wusste, dass er damit durchkommen würde. Seine Großmut ist allenfalls eine nachträglich angefügte Geste. Ihm ist jetzt alles möglich geworden, er braucht sich nicht mehr an die Regeln zu halten. Wenn er will, kann er Gutes tun, aber er kann auch Böses tun, und vorläufig haben wir keine Ahnung, wozu er sich entschließen wird.
    Zu Hause hat sich Hectors Frau ins Bett gelegt.
    Im Büro öffnet Chase einen Tresor und entnimmt ihm einen dicken Stapel Aktienzertifikate. Er setzt sich an seinen Schreibtisch und beginnt sie zu z zählen.
    Unterdessen schickt Hector sich an, sein erstes größeres Verbrechen zu begehen. Er betritt ein Juweliergeschäft, und vor einem halben

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