Das Buch der Illusionen
da sind, ist es zu spät. Die Tür springt auf, Polizist und Juwelier stürmen herein. Der Schmuck wird identifiziert, das Verbrechen ist gelöst, der Dieb wird verhaftet. Es spielt keine Rolle, dass Chase unschuldig ist. Die Spur hat zu seiner Tür geführt, sie haben ihn auf frischer Tat ertappt. Natürlich protestiert er, versucht durchs Fenster zu fliehen, bewirft seine Angreifer mit Limonadenflaschen, aber nach einem wilden Gerangel, bei dem auch Schlagstock und Bajonett nicht geschont werden, wird er schließlich überwältigt. Hector steht als grimmig unbekümmerter Zuschauer daneben. Auch als Chase in Handschellen gelegt und aus dem Büro geführt wird, frohlockt Hector keineswegs über seinen Sieg. Sein Plan ist perfekt aufgegangen, aber was hat er selbst davon? Der Tag neigt sich dem Ende zu, und er ist immer noch unsichtbar.
Er geht wieder auf die Straße und streift ziellos umher. Die Boulevards sind menschenleer, Hector scheint als Einziger in der Stadt geblieben zu sein. Was ist aus dem Gedränge geworden, durch das er sich vorhin geschoben hat?
Wo sind die Autos und Straßenbahnen, die Menschenmassen auf den Bürgersteigen? Wir fragen uns, ob etwa der Zauber jetzt umgekehrt wirkt. Vielleicht ist Hector wieder sichtbar, denken wir, und alle anderen sind verschwunden. Aber dann nähert sich plötzlich ein Lastwagen und rast durch eine Pfütze. Ein Wasserschwall ergießt sich in hohem Bogen auf den Bürgersteig. Auch Hector wird getroffen, doch als die Kamera sich ihm zuwendet, um uns den Schaden zu zeigen, ist sein Anzug immer noch makellos. Das müsste eigentlich komisch sein, ist es aber nicht, und da Hector die Szene mit Bedacht nicht komisch gestaltet (ein langer, trauriger Blick auf seinen Anzug; die Enttäuschung in seinen Augen, als er sieht, dass er nicht mit Schlamm bespritzt ist), ändert dieser simple Trick die Stimmung des ganzen Films. Als es dunkel wird, sehen wir ihn nach Hause kommen. Er tritt ein, steigt die Treppe ins Obergeschoss hoch und geht ins Zimmer seiner Kinder. Das Mädchen und der Junge schlafen schon, jedes in seinem Bettchen. Er setzt sich neben die Tochter, betrachtet sekundenlang ihr Gesicht und hebt die Hand, um ihr Haar zu streicheln. Doch als er sie schon fast berührt, hält er inne, denn plötzlich wird ihm klar, dass seine Hand sie wecken könnte, und wenn sie im Dunkeln erwachte und niemanden sähe, würde sie Angst bekommen. Hector spielt diese anrührende Szene ganz schlicht und zurückhaltend. Er hat nicht mehr das Recht, seine eigene Tochter zu berühren, und während er noch zögert und dann die Hand zurückzieht, erleben wir das volle Ausmaß des Fluchs, der über ihn verhängt wurde. Diese eine kleine Geste - die in der Luft schwebende Hand, die offene Handfläche nur Zentimeter vom Kopf des Mädchens entfernt - zeigt uns, dass Hector vollständig vernichtet ist.
Wie ein Geist steht er auf und verlässt das Zimmer. Er geht den Flur hinunter, öffnet eine Tür und tritt ein. Es ist das Schlafzimmer, und im Bett liegt seine Frau, seine herzlich Geliebte, und schläft. Hector zögert. Sie schlägt um sich, wälzt sich hin und her, strampelt sich aus den Decken: Irgendein schrecklicher Traum hält sie gepackt. Hector nähert sich dem Bett und deckt sie wieder zu, richtet die Kopfkissen und macht die Nachttischlampe aus. Ihre zuckenden Bewegungen werden ruhiger, und wenig später schläft sie tief und fest. Hector tritt zurück, wirft ihr zärtlich eine Kusshand zu und setzt sich in einen Sessel am Fußende des Betts. Es sieht aus, als habe er vor, die ganze Nacht dort zu bleiben und wie ein guter Geist über sie zu wachen. Er kann sie zwar nicht berühren oder mit ihr reden, aber er kann sie beschützen und sich an der Energie ihrer Gegenwart stärken. Doch auch unsichtbare Menschen sind nicht immun gegen Erschöpfung. Sie haben Körper wie jeder andere, und wie jeder andere müssen sie schlafen. Hector werden die Lider schwer. Sie flattern und geben nach, sie fallen zu und öffnen sich wieder, und obwohl er sich noch ein paar Mal wachrütteln kann, ist klar, dass er den Kampf verlieren wird. Und dann unterliegt er auch schon.
Die Leinwand wird schwarz. Bei der nächsten Einstellung ist es Morgen, das Tageslicht flutet durch die Fenster. Schnitt auf Hectors Frau, sie liegt im Bett und schläft. Dann Schnitt auf Hector, schlafend im Sessel. Sein Körper, aufs Unwahrscheinlichste verrenkt, bildet ein komisches Gewirr aus gespreizten Gliedmaßen und geknickten
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