Das Buch der Illusionen
vorgenommen hat - aber nur zufällig, wieder einmal gerettet vom rebellisch unvorhersehbaren Verhalten der Materie.
Am nächsten Abend kann der Vorhang hochgehen, und die Vorstellung wird ein gewaltiger Erfolg. Der Metzger, der Kaufhausbesitzer, der Sheriff und die dicke Frau befinden sich jedoch auch unter den Zuschauern, und während die Schauspieler sich noch vor der begeisterten Menge verbeugen und Kusshände werfen, legt ein Polizist Hector Handschellen an und bringt ihn ins Gefängnis. Aber Hector ist glücklich, und er zeigt keine Spur von Reue. Er hat den Sieg davongetragen, und nicht einmal der drohende Freiheitsentzug vermag seinen Triumph zu schmälern. Jeder der die Schwierigkeiten kennt, mit denen Hector bei den Arbeiten an seinen Filmen zu kämpfen hatte, kann den Requisiteur nur als Parabel der Umstände deuten, unter denen er, vertraglich an Seymour Hunt gefesselt, für Kaleidoscope Pictures schuften musste. Wenn jede einzelne Karte im Spiel gegen einen ist, kann man nur gewinnen, wenn man gegen die Regeln verstößt. Man tut eben, was man kann, wie die alte Wendung sagt, und wird man zufällig dabei erwischt, geht man wenigstens mit fliegenden Fahnen unter.
Dies fröhliche Pfeifen auf die Konsequenzen nimmt in Hectors elftem Film, Ein Niemand, dunklere Züge an. Inzwischen lief ihm die Zeit davon, und er hat wohl gewusst, dass es mit seiner Karriere aus wäre, sobald er den Vertrag erfüllt hätte. Der Tonfilm kam auf. Das war eine unausweichliche Tatsache, eine Gewissheit, die alles zerstören würde, was davor gewesen war: Die Kunst, um die sich Hector so sehr bemüht hatte, würde aussterben. Selbst wenn er seine Ideen der neuen Form anpassen konnte, würde ihm das nichts nützen. Hector sprach mit starkem spanischem Akzent, und das amerikanische Publikum würde ihn beim ersten Wort, das er von der Leinwand sprach, verstoßen. In Ein Niemand lässt er sich zu einer gewissen Bitterkeit hinreißen. Die Zukunft sah finster aus, die Gegenwart war von Hunts zunehmenden Geldproblemen überschattet. Mit jedem Monat erfassten die Verluste weitere Teile von Kaleidoscopes Unternehmungen. Budgets wurden gestrichen, Löhne nicht ausgezahlt, und die hohen Zinsen für kurzfristige Kredite hatten zur Folge, dass Hunt ständig Bargeld brauchte. Er borgte es sich von seinen Verleihern gegen zukünftige Einnahmen aus Kartenverkäufen, und nachdem er solche Abmachungen mehrmals gebrochen hatte, weigerten sich die ersten Filmtheater, seine Filme zu zeigen. Hector lieferte jetzt seine besten Arbeiten ab, aber die traurige Tatsache war, dass immer weniger Leute seine Filme noch sehen konnten.
Ein Niemand ist eine Antwort auf diese zunehmend frustrierende Situation. Der Schurke der Geschichte heißt C. Lester Chase, und ist man erst einmal auf die Ursprünge des sonderbaren, künstlichen Namens dieser Figur gestoßen, fällt es schwer, in ihm nicht einen symbolischen Vertreter Hunts zu sehen. Hunt, ins Französische übersetzt, ist chasse; streicht man daraus das zweite s, erhält man chase. Bedenkt man ferner, dass Seymour akustisch auch als see more verstanden werden kann und dass Lester häufig zu Les abgekürzt wird, dann kommt man auf C. Les - oder see less -, und die Beweislage ist ziemlich eindeutig. Chase ist der bösartigste Charakter aller Filme Hectors. Er ist darauf aus, Hector zu vernichten und seiner Identität zu berauben, und er sucht diesen Plan nicht zu verwirklichen, indem er Hector eine Kugel in den Rücken oder ein Messer ins Herz jagt, sondern indem er ihn mit einem Trick dazu bringt, einen Zaubertrank zu schlucken, der ihn unsichtbar macht. Das ist letztlich genau das, was Hunt mit Hectors Filmkarriere getan hat. Er hat ihn auf die Leinwand gebracht, und dann hat er dafür gesorgt, dass ihn dort praktisch niemand sehen konnte. Hector verschwindet in Ein Niemand nicht, aber nachdem er den Trank zu sich genommen hat, kann niemand ihn mehr sehen. Er bewegt sich zwar noch über die Leinwand, aber die anderen Darsteller in dem Film nehmen ihn nicht wahr. Er hüpft herum, er wedelt mit den Armen, er legt an einer belebten Straßenkreuzung seine Kleider ab, aber niemand nimmt Notiz von ihm. Wenn er den Leuten ins Gesicht schreit, bleibt seine Stimme unge-hört. Er ist ein Gespenst aus Fleisch und Blut, ein Mensch, der kein Mensch mehr ist. Er weilt noch in der Welt, aber die Welt hat keinen Platz mehr für ihn. Er wurde ermordet, aber niemand war so höflich oder rücksichtsvoll, ihn auch wirklich zu
Weitere Kostenlose Bücher