Das Buch der Lebenskunst
unter dem manche leiden, einfach dadurch bedingt, dass wir unsern Leib zu wenig spüren. Wir brauchen aber auch eine kultivierte Wohnung. Wenn wir nicht mehr die Kraft haben, unser Haus in Ordnung zu halten und unsere Wohnung wohnlich zu gestalten, dann müssen wir anderswo Heimat und Geborgenheit suchen. Auch Essen und Trin ken gehören zu den Bereichen, die geformt werden müssen. Ich rede nicht einem übertriebenen Kreisen um gesunde Ernährung das Wort, sondern einer Kultur des Essens. Viele nehmen sich nicht mehr die Zeit, in aller Ruhe zu essen. Sie schlingen zwischendurch etwas herunter. Aber wenn wir nicht mehr Mahl halten können, wie sollten wir dann angemessen Gemeinschaft erfahren können? Auch das ausbalancierte Verhältnis von Bewegung und Ruhe ist zu bedenken: Manchmal haben wir das Gefühl, ausgesaugt zu werden von den vielen Menschen, die etwas von uns wollen. Da brauchen wir als Gegengewicht gesunde Rituale. Ich gestalte zum Beispiel den Morgen bewusst so, wie es mir gut tut. Die ersten Stunden des Tages gehören mir. Und ich beschließe den Tag mit einem Ritual und drücke damit aus, dass es mein Tag war, ein Tag, der mir geschenkt wurde und den ich dem wieder zurückgebe, der mir die Zeit meines Lebens schenkt. Viele kommen aus einem stressreichen und hektischen Arbeitstag nach Hause und haben nicht Kraft und Lust zu etwas Sinnvollem. Sie stopfen dann den Arger zu mit Essen, Trinken oder Fernsehen und gehen müde ins Bett. Das ist zwar auch ein Abendritual. Aber es tut uns nicht gut. Der unterdrückte Ärger wird sich im Schlaf im Un-bewussten austoben. Und wir am nächsten Tag aufstehen mit einem diffusen Gefühl von Unzufriedenheit. Ein gesundes Abendritual gibt uns das Gefühl für das Geheimnis der Nacht, dass wir im Schlaf eintauchen in den göttlichen Wurzelgrund, dass Gott selbst zu uns im Traum reden möchte. Jeder Tag, ja das ganze Leben ist also Teil dieser Kunst des rechten Lebens. Alles ist von einer spirituellen Kraft zu formen, einer Kraft, die uns gut und gesund leben lässt.
RITUALE ÖFFNEN DEN HIMMEL
Erhart Kästner schreibt in seinem Buch „Stundentrommel“ über die Riten, die er bei den Mönchen auf dem Berg Athos beobachtet: „Neben dem Drang, die Welt zu gewinnen, liegt ein eingeborener Drang, immer Selbes aus uralten Formen zu prägen. In Riten fühlt sich die Seele wohl.
Das sind ihre festen Gehäuse ... Der Kopf will das Neue, das Herz immer dasselbe.“ Was Kästner bei den Mönchen des Heiligen Berges beschreibt, gilt für uns alle: Ein gelingendes Leben braucht immer wieder Halt und immer wieder Anregungen. Rituale können beides geben. Heilende Rituale sind ein Weg, wie der Mensch mitten im Getriebe des Alltags und in der Ortlosigkeit dieser Welt einen Raum zum Wohnen findet, wie er mitten in der Hektik einen Ort des Ausruhens entdeckt. Rituale öffnen immer wieder den Himmel über uns. Sie verheißen uns, dass unser Leben gelingt. Und sie helfen uns, selber zu leben, anstatt von außen gelebt zu werden. Sie geben Vertrautheit, Klarheit, Sicherheit - das Gefühl der eigenen Identität: Es ist mein Leben, das ich lebe. Wenn wir Angst haben, alles nicht mehr schaffen und im Strudel der Arbeit unterzugehen, dann sind Rituale eine Hilfe, Geborgenheit zu vermitteln mitten in der Unge-borgenheit unserer Zeit. Rituale sind auch deswegen gesund, weil sie Lust am Leben vermitteln. Ich erfahre in sinnlichen Ritualen ganz konkret: Es ist mein Leben, das ich lebe.
NICHT ÜBERSPANNEN
Gut mit sich umzugehen heißt nicht, dass man sich selbst verwöhnt. Es heißt nicht, dass man sich von seinen Wünschen und Bedürfnissen abhängig macht. Sein Leben zu gestalten, heißt nicht, seinen Launen nachzugeben. Im Gegenteil: Wer sich seinen Launen ausliefert, entwickelt keine Stärke. Wer jedem Wunsch nachgibt, wird auf Dauer nicht zufriedener. Askese und Disziplin - im rechten Maß geübt - gehören zu einem guten Leben. Sie vermitteln die Erfahrung, dass wir unser Leben selbst gestalten, dass wir selber leben, anstatt gelebt zu werden.
Amma Synkletika meint von der übertriebenen Askese: „Es gibt eine überspannte Askese, die vom Feinde ist. Denn auch seine Schüler üben sie. Wie nun unterscheiden wir die göttliche, die königliche Askese von der tyrannischen, dämonischen? Offenkundig durch das Maß“.
Askese darf also nicht zu einem Wüten gegen sich selbst werden. Dann würde sie uns nur schaden. Von Abbas Poimen stammt das Wort: „Alles Übermaß ist von den
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