Das Buch der Toten
anfangen kann.« Er wedelte mit seinem eigenen knochigen Zeigefinger. »Ich will dir mal was sagen, mein Junge: Eines Tages wird die Wissenschaft in unserem Geschäft eine verdammt große Rolle spielen. Eines Tages wird man selber Wissenschaftler sein müssen, um unseren Job zu machen, du kommst zum Tatort, machst einen Abstrich von der Leiche, ziehst dein kleines Mikroskop aus der Tasche, und im Nu weißt du über die biochemische Zusammensetzung von jedem Aas Bescheid, mit dem der Tote in den vergangenen zehn Jahren zu schaffen hatte.«
»Mikrospuren?«, sagte Milo. »Denken Sie, dass das mal so ausgereift sein wird?«
»Klar doch«, entgegnete Schwinn ungeduldig. »Im Moment ist die Mikrospurenanalyse noch zum größten Teil nutzloser Quatsch, aber wart's nur ab.«
An ihrem ersten Tag als Einsatzteam waren sie in Central herumgefahren. Ziellos, wie Milo dachte. Er wartete die ganze Zeit darauf, dass Schwinn ihm irgendwelche bekannten Verbrecher zeigte, Lokale, in denen es öfter Ärger gab, aber der Kerl schien seine Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen; offenbar wollte er nur reden. Später sollte Milo noch erfahren, dass Schwinn eine ganze Menge zu bieten hatte. Solide kriminalistische Logik und unverzichtbare Ratschläge (»Du solltest immer eine eigene Kamera dabei haben, Handschuhe und Fingerabdruckpulver. Kümmere dich um deinen eigenen Krempel, verlass dich nicht auf andere«). Aber in diesem Moment, an diesem ersten Tag, kam ihm die ganze Fahrerei - wie überhaupt alles, ziemlich sinnlos vor.
»Mikrospuren«, meinte Schwinn. »Alles, was wir momentan bestimmen können, ist die Blutgruppe. Was für ein Quark! Tolle Sache, wirklich, wenn eine Million Kerle Blutgruppe 0 haben und die meisten anderen A, was hat man denn, bitte schön, davon? Und dann die Haare. Manchmal nehmen sie Haare mit und stecken sie in kleine Plastiktütchen, aber was können sie damit schon anfangen? Dann kommt irgendwann so ein jüdischer Anwalt daher und beweist, dass die Haare einen Dreck wert sind. Nein, ich rede von ernsthafter Wissenschaft, irgendwelche nuklearen Techniken, wie sie sie bei der Datierung von Fossilien benutzen. Radiokarbonmethode und so. Eines schönen Tages werden wir alle Anthropologen sein. Zu schade, dass du keinen Magister in Anthropologie hast… aber einigermaßen tippen kannst du schon?«
Ein paar Meilen später. Milo versuchte sich selbst ein Bild von der Gegend zu machen, prägte sich Gesichter und Gebäude ein, als Schwinn unvermittelt erklärte: »Dein Englisch wird dir hier überhaupt nichts nützen, mein Junge, weil unsere Kunden nämlich nix viel Englisch spreche . Weder die Mexicanos noch die Nigger, es sei denn, du nennst dieses Geschwafel von denen Englisch.«
Milo hielt den Mund.
»Scheiß auf Englisch«, sagte Schwinn. »Scheiß auf Englisch und kipp Salzsäure drüber. Was in Zukunft angesagt ist, sind wissenschaftliche Methoden.«
Man hatte ihnen nicht viel über den Einsatz an der Beaudry Avenue gesagt. Weibliche Leiche, weiß, gefunden von einem Typen, der das Gebüsch an der Auffahrt zum Freeway nach Verwertbarem durchkämmt hatte.
Am Vorabend hatte es geregnet, und der Boden, auf dem die Leiche abgelegt worden war, bestand aus Lehm, der das Wasser kaum abfließen ließ, sodass sich an den tieferen Stellen bis zu drei Zentimeter tiefe, trübe Pfützen gebildet hatten. Obwohl der Boden um den Fundort herum hübsch weich und schlammig war, gab es weder Reifennoch Fußspuren. Der Lumpensammler war ein alter Schwarzer namens Eimer Jacquette, groß gewachsen, ausgemergelt, mit gebeugten Schultern und zitternden Parkinson-Händen, die gut zu seiner Erregung passten, als er seine Geschichte jedem, der sie hören wollte, noch einmal erzählte.
»Und da lag sie, direkt vor mir, Herr im Himmel…«
Niemand hörte ihm mehr zu. Die Uniformierten, die Männer von der Spurensicherung und der Gerichtsmediziner waren mit ihrer Arbeit beschäftigt. Eine Menge anderer Leute standen herum und unterhielten sich. Einsatzwagen mit flackerndem Blaulicht sperrten die Beaudry Avenue von der Temple an, wo ein gelangweilt aussehender Streifenpolizist die Autos umleitete, die auf den Freeway wollten.
Es herrschte relativ wenig Verkehr. Neun Uhr morgens, die Rushhour war längst vorbei. Die Totenstarre hatte sich schon wieder gelöst, erste Anzeichen der Verwesung waren bereits zu erkennen. Der Gerichtsmediziner schätzte, dass der Tod vor einem halben bis einem Tag eingetreten war, aber man konnte
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