Das Buch der Toten
unmöglich sagen, wie lange die Leiche dort gelegen hatte oder bei welcher Temperatur sie gelagert worden war. Die logische Vermutung war, dass der Mörder sie am Abend zuvor nach Einbruch der Dunkelheit mit dem Wagen hergebracht und abgeladen hatte und nach getaner Arbeit gleich über den Freeway 101 davongebraust war.
Kein Autofahrer hatte sie gesehen. Wer hat schon Augen für den Abfall, der sich am Straßenrand ansammelt, wenn er es eilig hat? Man lernt eine Stadt erst richtig kennen, wenn man sie zu Fuß erkundet. Das war auch der Grund, weshalb so wenige Menschen L. A. wirklich kannten, dachte Milo. Er lebte nun schon zwei Jahre hier und kam sich immer noch wie ein Fremder vor.
Eimer Jacquette ging immer zu Fuß, weil er kein Auto besaß. Er bearbeitete das Gebiet zwischen seinem Schlafplatz in East Hollywood und der Westgrenze von Downtown, durchstöberte den Abfall nach Dosen, Flaschen und anderen Sachen, die die Leute wegwarfen, und versuchte, seine Fundstücke in Secondhandläden gegen Gutscheine für die Armenküche einzutauschen. Einmal hatte er tatsächlich eine Uhr gefunden, die noch ging, Gold, wie er dachte, aber es hatte sich herausgestellt, dass sie bloß vergoldet war. Immerhin hatte er in einem Pfandhaus an der South Vermont noch zehn Dollar dafür gekriegt.
Er hatte die Leiche sofort gesehen, wie konnte man sie aus der Entfernung auch übersehen, wie sie so blass im Mondlicht lag, und dazu der süßliche Geruch, die grotesk verdrehten und gespreizten Beine des Mädchens… Ihm war auf der Stelle speiübel geworden, und kurz darauf hatte er den Bohneneintopf mit Würstchen wieder von sich gegeben.
Jacquette war so vorausschauend gewesen, etwa fünf Meter weit von der Leiche wegzulaufen, bevor er sich ausgekotzt hatte. Als die Uniformierten eintrafen, deutete er mit entschuldigender Geste auf den Haufen von Erbrochenem. Wollte ja keinen Ärger machen. Er war achtundsechzig, hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesessen, wollte der Polizei keinen Ärger machen, o nein.
Ja, Sir; nein, Sir.
Sie hatten ihm gesagt, er solle in der Nähe bleiben, bis die Kripo eintraf. Jetzt waren die Männer in Zivil endlich da; Jacquette stand neben einem der Streifenwagen, jemand machte sie auf ihn aufmerksam, und sie kamen auf ihn zu, traten in das gleißende Licht, mit dem die Polizisten die ganze Umgebung ausgeleuchtet hatten.
Zwei Kerle in Anzügen. Ein hagerer, weißhaariger Hinterwäldlertyp in einem altmodischen grauen Kammgarnanzug und ein dunkelhaariger, übergewichtiger Jüngling mit käsigem Gesicht in einem grünen Jackett, zu dem er eine braune Hose und eine hässliche rotbraune Krawatte trug, Eimer fragte sich, ob die Cops neuerdings auch schon in Secondhandläden einkauften.
Zuerst blieben sie bei der Leiche stehen. Der Ältere nahm sie kurz in Augenschein, rümpfte die Nase und setzte eine genervte Miene auf. Als ob er bei irgendetwas Wichtigem gestört worden wäre. Der fette Jüngling reagierte völlig anders. Warf nur einen ganz kurzen Blick auf die Leiche und wandte sich dann sofort ab. Schlechte Haut hatte er, und jetzt war er weiß wie die Wand. Fing an, sich mit einer Hand das Gesicht zu reiben, schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Spannte seinen großen, schweren Körper an, als ob er gleich selbst sein Frühstück zurückgehen lassen wollte.
Eimer fragte sich, wie lange der junge Bursche den Job schon machte, falls er wirklich reihern sollte. Und wenn er Bröckchen hustete, würde er dann so schlau sein, nicht auf die Leiche zu zielen, so wie Eimer es getan hatte?
Der Junge sah jedenfalls nicht wie ein Veteran aus.
6
Das hier war schlimmer als Asien. Der Krieg, so brutal er auch sein mochte, war immer etwas Unpersönliches; Schachfiguren aus Fle isch und Blut wurden auf dem Schlachtfeld hin und her geschoben; man feuerte auf Schatten, nahm Hütten aus der Luft unter Beschuss und redete sich ein, dass sie unbewohnt waren, lebte Tag um Tag mit der Hoffnung, dass man nicht zu den Figuren gehören würde, die vom Brett gefegt wurden. Wenn man den anderen auf das Etikett »Feind« reduziert, kann man ihm die Beine abschießen, ihm den Bauch aufschlitzen oder seine Kinder mit Napalm abfackeln, ohne auch nur seinen Namen zu kennen. So schlimm die Auswüchse des Krieges auch sein mochten, immer blieb noch die Möglichkeit, dass man irgendwann später wieder nett zueinander war, siehe Deutschland und seine europäischen Nachbarn. In den Augen seines Vaters, der bei der alliierten
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