Das Buch der Toten
Invasion in der Normandie dabei gewesen war, gab es nichts Widerlicheres als diese Versuche, sich bei den Krauts lieb Kind zu machen. Dad rümpfte jedes Mal die Nase, wenn er eine von diesen »Hippieschwuchteln in ihren Hitler-VWs« erblickte. Aber Milo kannte die Geschichte gut genug, um zu verstehen, dass der Frieden ebenso unvermeidlich war wie der Krieg, und dass, so unwahrscheinlich es im Moment noch klingen mochte, eines Tages Amerikaner vielleicht in Hanoi Urlaub machen würden.
Die Wunden, die der Krieg schlug, konnten verheilen, weil sie eben nicht persönlich waren. Zwar würde die Erinnerung an die Gedärme, die durch seine Finger geglitten waren, wohl kaum verblassen, aber vielleicht irgendwann in ferner Zukunft…
Aber das hier… das war etwas ganz anderes. Ein menschlicher Körper, auf kaltes Fleisch und geronnenes Blut reduziert, zum Abfall geworfen. Die völlige Vernichtung des Individuums.
Er holte tief Luft, knöpfte sein Jackett zu und zwang sich, noch einen Blick auf die Leiche zu werfen. Wie alt sie wohl sein mochte siebzehn, achtzehn? Die Hände, so ungefähr die einzigen Stellen an ihrem Körper, die nicht blutverschmiert waren, sahen zart und bleich aus, ohne Makel. Lange, schlanke Finger, rosa lackierte Nägel. Soweit er das beurteilen konnte und das war nicht einfach, so wie sie zugerichtet war, hatte sie feine Gesichtszüge, war vielleicht sehr hübsch gewesen.
Kein Blut an den Händen. Keine Abwehrverletzungen…
Das Mädchen lag da, eingeschlossen in einem unendlichen Augenblick, ein Trümmerhaufen aus Fleisch und Blut. Jäh aus dem Leben gerissen, wie eine glänzende kleine Armbanduhr, brutal zertrampelt, das Glas zersprungen.
Und auch nach ihrem Tod hatte sich noch jemand an ihr zu schaffen gemacht. Der Mörder hatte ihre Beine gespreizt, in den Knien angewinkelt, die Füße leicht nach außen gestellt.
Hatte sie dort im Freien liegen lassen wie eine grausige Skulptur. Overkill, hatte der Gerichtsmediziner erklärt, als ob man für dieses Urteil eine medizinische Ausbildung benötigte.
Schwinn hatte Milo aufgetragen, die Wunden zu zählen, aber das war keine so leichte Aufgabe. Die Schnitt und Stichverletzungen waren unproblematisch, aber sollte er auch die Fesselungsmahle an Hand und Fußgelenken als Wunden zählen? Und was war mit dem klaffenden, schreiend roten Einschnitt, der sich durch ihren Hals zog? Schwinn war zum Wagen gegangen, um seine Instamatic zu holen, er war ein richtiger Fotonarr, und Milo wollte ihn nicht fragen, die Scheu des Anfängers, sich seine Unsicherheit anmerken zu lassen.
Er beschloss, die Fesselungsmahle in einer getrennten Spalte aufzuführen, und malte fleißig laufende Nummern in seinen Block. Überprüfte noch einmal seine Zählung der Messerstiche. Sowohl präals auch postmortal, vermutete der Arzt. Eins, zwei, drei, vier… er kam wieder auf sechsundfünfzig, machte sich an die Auflistung der Zigarettenverbrennungen.
Die entzündeten Höfe um die Male herum besagten, dass ihr die Verbrennungen vor dem Tod beigebracht worden waren.
Am Fundort war nur sehr wenig Blut geflossen. Sie war anderswo getötet und dann hier abgeladen worden.
Aber auf dem Schädeldach war jede Menge Blut, eine dunkler werdende Haube, die Schwärme von Fliegen anzog.
Um seinem Werk den letzten Schliff zu geben, hatte der Täter sie skalpiert. Zählte das nun als eine riesige Wunde, oder musste er sich den blutigen Schädel ganz genau ansehen, um festzustellen, wie oft der Mörder die Haut eingeschnitten hatte?
Eine Wolke von Stechmücken kreiste über der Leiche. Milo verjagte sie und notierte »Entfernung der Kopfhaut« als separaten Eintrag. Dann zeichnete er eine Skizze der Leiche, komplett mit der dunklen Haube, wobei seine erbärmlich schlechte Darstellung das Blut wie eine Pudelmütze aussehen ließ - äußerst unpassend, geradezu anstößig. Er runzelte die Stirn, klappte seinen Notizblock zu und trat zurück. Betrachtete die Leiche aus einem neuen Blickwinkel. Kämpfte gegen eine neue Welle der Übelkeit an.
Dem alten Schwarzen, der sie gefunden hatte, war das Essen aus dem Gesicht gefallen. Seit er das Mädchen zum ersten Mal erblickt hatte, musste Milo alle seine Willenskraft aufbieten, damit es ihm nicht ebenso erging. Krampfhaft spannte er die Bauchdecke an und überlegte, welches Mantra ihm hier wohl helfen könnte. Du bist doch keine Jungfrau, hast schon Schlimmeres gesehen. Und er dachte an das Schlimmste: melonengroße Löcher in Brustkörben,
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