Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
einen Punkt zu gelangen, an dem ich nicht mehr weiß, woran ich denke, wovon ich träume, was ich schaue. Mir scheint, ich träume aus immer weiterer Ferne und zunehmend das Unbestimmte, das Ungenaue, das Nichtschaubare.
Ich stelle keine Theorien über das Leben auf. Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, ich denke nicht darüber nach. In meinen Augen ist es hart und traurig, mit hin und wieder angenehmen Träumen. Was geht mich an, was es für andere ist?
Anderer Leute Leben dient mir allein für meine Träume, in ihnen lebe ich das Leben, von dem ich denke, es könnte ihnen entsprechen.
252
Denken heißt nichtsdestoweniger handeln. Nur in der absoluten Träumerei, in die nichts Aktives eingreift, in der letztlich sogar unser Bewußtsein von uns selbst im Schlamm versinkt – nur dort, in diesem lauen, feuchten Nicht-Sein, kann der völlige Verzicht auf alles Handeln erreicht werden.
Nicht verstehen wollen, nicht analysieren … sich sehen wie die Natur; seine Empfindungen betrachten wie eine Landschaft – das ist weise sein.
253
… dieser heilige Instinkt, der uns veranlaßt, keine Theorien zu haben …
254
Mehr als einmal hat mich bei meinen Gängen durch die spätnachmittäglichen Straßen die befremdliche, organisierte Gegenwart der Dinge unversehens, heftig und bestürzend in der Seele getroffen. Es sind weniger die natürlichen Dinge, die mich so berühren, so stark empfinden lassen, als vielmehr die Anordnung der Straßen, die Schilder und Aufschriften, die Menschen in ihrer Kleidung und ihren Worten, ihrem Tun, die Zeitungen, die Logik, die allem innewohnt. Oder die Tatsache, daß Straßen angeordnet sind, es Schilder, Aufschriften, ein bestimmtes Tun, Menschen und eine Gesellschaft gibt und alles zusammenfindet, bekannten Wegen folgt und neue erschließt.
Bei näherem Hinsehen stelle ich stets fest, daß der Mensch so unbewußt lebt wie Katz oder Hund; er spricht und organisiert sich in der Gesellschaft vermittels einer Unbewußtheit anderer Art, einer Unbewußtheit, die Ameisen und Bienen in ihrem sozialen Leben leitet, gänzlich unterlegen. Und wie durch ein Licht erhellt sich mir dann mehr noch als aus der Existenz von Organismen, mehr noch als aus der Existenz logischer und streng physikalischer Gesetze, die welterschaffende und weltdurchdringende Intelligenz.
Wann immer dies geschieht, denke ich unweigerlich an jenen alten Satz, ich weiß nicht mehr welchen Scholastikers: Deus est anima brutorum , Gott ist die Seele der Tiere. Mit diesem wunderbaren Satz wollte der Autor die Sicherheit erklären, die den Instinkt niederer Lebewesen leitet, die nicht oder nur ansatzweise über Intelligenz verfügen. Doch wir alle sind niedere Lebewesen – Sprechen und Denken sind nur neue Instinkte und daher weniger sicher als alle übrigen. Dieser so schöne und treffende Satz des Scholastikers läßt sich noch erweitern, und ich sage: Gott ist die Seele von allem.
Ich habe nie verstanden, daß, wer einmal das große Uhrwerk des Universums als Faktum angesehen hat, die Existenz des Uhrmachers leugnen kann, an die nicht einmal Voltaire nicht glaubte. Wohingegen ich verstehe, daß man in Anbetracht bestimmer scheinbar außerplanmäßiger Fakten (wozu man allerdings den Plan kennen müßte, um zu wissen, ob sie tatsächlich außerplanmäßig sind) dieser höchsten Intelligenz ein Element der Unvollkommenheit zuschreibt. Dies verstehe ich, auch wenn ich es nicht akzeptieren kann. Desgleichen verstehe ich, daß man angesichts des Bösen in der Welt die unendliche Güte dieser schöpferischen Intelligenz in Zweifel zieht. Dies verstehe ich, wenngleich ich es ebenfalls nicht akzeptieren kann. Daß man aber die Existenz dieser Intelligenz, also Gottes, leugnet, scheint mir eine jener Dummheiten, wie sie so oft die Intelligenz von Menschen auf einem Gebiet beeinträchtigen, die auf allen anderen Gebieten absolut überlegen sein können; zum Beispiel solche, die sich immerzu verrechnen oder (um die Intelligenz der Empfindsamkeit ins Spiel zu bringen) nichts mit Musik, Malerei oder Dichtung anfangen können.
Ich lasse weder, wie ich bereits sagte, das Argument vom unvollkommenen noch vom nicht gütigen Uhrmacher gelten. Ich lehne das Argument vom unvollkommenen Uhrmacher ab, da, was uns am Regieren und Organisieren der Welt falsch oder sinnlos erscheint, nicht als solches erachtet werden darf, solange wir den Gesamtplan nicht kennen. Wir erkennen deutlich in allem einen Plan; nehmen bestimmte Dinge
Weitere Kostenlose Bücher