Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
elegant sein, je mehr es ihm aber an Eleganz fehlt, desto mehr verliert es seine Wirkung auf andere. Kraft ohne Geschick ist bloße Masse.
258
Die Füße Christi berührt zu haben ist keine Entschuldigung für eine fehlerhafte Interpunktion.
Kann jemand nur in betrunkenem Zustand gut schreiben, sage ich zu ihm: Betrinken Sie sich. Und entgegnet er mir dann, das sei schlecht für seine Leber, frage ich ihn: Was ist Ihre Leber? Sie ist etwas Totes, das lebt, solange Sie leben, und die Gedichte, die Sie schreiben, leben ohne dieses Solange.
260
1 . 12 . 1931
Die Kunst besteht darin, andere fühlen zu machen, was wir fühlen, sie von sich selbst zu befreien und ihnen als besondere Befreiung unsere Persönlichkeit anzubieten. Je tiefer ich etwas fühle, um so schwerer ist es zu vermitteln, was ich aber in meinem Innersten fühle, ist absolut unvermittelbar. Damit ich also einem anderen meine Gefühle vermitteln kann, muß ich sie in seine Sprache übersetzen, das heißt, ich muß, was ich fühle, so formulieren, daß er es beim Lesen genau so empfindet, wie ich es gefühlt habe. Und da dieser Andere durch eine von der Kunst eröffnete Möglichkeit nicht diese oder jene Person ist, sondern jedermann, das heißt die Person, die allen Personen gemein ist, muß ich mein Gefühl in ein allgemein menschliches Gefühl umwandeln, auch wenn auf diese Weise die wahre Natur dessen, was ich gefühlt habe, verfälscht wird.
Abstrakte Dinge sind schwer zu begreifen, denn es ist nicht leicht, die Aufmerksamkeit des Lesers für sie zu wecken. Deshalb werde ich versuchen, meine Abstraktionen anhand eines einfachen Beispiels zu konkretisieren. Angenommen, mich überkommt, aus irgendeinem Grund, vielleicht weil ich es müde bin, Buch zu führen, oder mich das Nichtstun langweilt, eine vage Lebenstraurigkeit, eine tiefinnere Angst vor mir selbst, die mich verwirrt und beunruhigt. Wenn ich diese Emotion in Worte übersetze, die ihr nahekommen, so werden sie, je näher ich ihr mit ihnen komme, immer mehr zu meinen eigenen, und um so weniger vermittle ich anderen. Läßt sich eine Emotion nicht vermitteln, ist es sinnvoller und leichter, sie zu fühlen als zu Papier zu bringen.
Angenommen jedoch, ich möchte sie anderen unbedingt vermitteln, oder genauer, Kunst aus meiner Emotion machen, da Kunst eine Form ist, anderen mitzuteilen, wie identisch wir uns mit ihnen fühlen, denn ohne diese Identität gäbe es weder eine Kommunikation noch das Bedürfnis, sie herzustellen, wenn dem so ist, suche ich herauszufinden, welche unter den allgemein menschlichen Emotionen Ton, Typus und Form meiner augenblicklichen Befindlichkeit aufweist, suche nach den unmenschlichen und persönlichen Gründen, warum ich ein müder Buchhalter oder ein gelangweilter Lissabonner bin. Und ich komme zu dem Schluß, daß diese weit verbreitete Emotion, die sich in einer gewöhnlichen Seele äußert, wie meine Emotion es tut, die Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit ist.
Dann habe ich den Schlüssel zur Tür meines Themas gefunden. Ich beschreibe und beklage meine verlorene Kindheit; ich verweile gerührt und in allen Einzelheiten bei Bewohnern und Mobiliar unseres alten Hauses in der Provinz; ich beschwöre das Glücksgefühl herauf, weder Rechte noch Pflichten zu haben, frei zu sein, weil ich weder weiß, wie man denkt, noch, wie man fühlt – und dieses Heraufbeschwören wird, ist es in treffende Worte und Bilder gefaßt, in meinem Leser genau die Emotion auslösen, die ich empfunden habe und die nichts mit meiner Kindheit zu tun hatte.
Habe ich gelogen? Nein, verstanden. Denn die Lüge – ausgenommen die kindliche und spontane Lüge, die dem Wunsch zu träumen entspringt – ist nichts anderes als das Erkennen der wirklichen Existenz anderer und des Bedürfnisses, diese Existenz mit der unseren in Einklang zu bringen, die sich jedoch nicht mit ihr in Einklang bringen läßt. Die Lüge ist schlicht die ideale Sprache der Seele, denn so, wie wir uns der Wörter – absurd artikulierten Lauten – bedienen, um unsere intimsten und subtilsten Gemütsbewegungen und Gedankengänge in wirkliche Sprache zu übersetzen, was Wörter alleine zwangsläufig nie könnten, so bedienen wir uns der Lüge und der Fiktion, um uns miteinander zu verständigen, etwas, das wir vermittels der eigenen und nicht vermittelbaren Wahrheit nie könnten.
Die Kunst lügt, weil sie gesellschaftsbezogen ist. Und es gibt nur zwei große Formen der Kunst – beide wenden sich an
Weitere Kostenlose Bücher