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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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geboren, die seit anderthalb Jahrhunderten an Verzicht und Gewalt leidet – am Verzicht der Oberen und an der Gewalt der Unteren, die deren Sieg ist.
    Keine höhere Eigenschaft kann sich im modernen Zeitalter behaupten, weder durch Handeln noch durch Denken, weder in der politischen Sphäre noch in der spekulativen.
    Der Niedergang des aristokratischen Einflusses hat zu einer Atmosphäre der Roheit und Gleichmut den Künsten gegenüber geführt, so daß verfeinerte Sensibilität dort keine Zuflucht mehr findet. Die Berührung der Seele mit dem Leben verursacht mehr und mehr Schmerz. Alles Bemühen wird immer schmerzhafter, denn die äußeren Bedingungen des Bemühens werden immer verabscheuenswerter.
    Der Niedergang der klassischen Ideale hat alle Menschen zu potentiellen und somit schlechten Künstlern gemacht. Als noch eine solide. Konstruktion und ein gewissenhaftes Einhalten von Regeln Maßstäbe für die Kunst waren, konnten sich nur wenige als Künstler versuchen, und ein Großteil von ihnen war sehr gut. Als die Kunst aber nicht länger als etwas Schöpferisches betrachtet wurde, sondern als Ausdruck der Gefühle, konnte ein jeder Künstler sein, da ein jeder Gefühle hat.

250
    Selbst wenn ich etwas erschaffen wollte, […]

    Die einzig wahre Kunst ist die der Konstruktion . Aber die moderne Umwelt verhindert, daß in unserem Geist Konstruktivität entsteht.
    Daher entwickelte sich die Wissenschaft. Nur in Maschinen findet man heutzutage Konstruktion; nur in mathematischen Beweisen finden sich Argumente mit logischen Verknüpfungen.
    Die Schaffenskraft braucht eine Stütze, die Krücke der Wirklichkeit.
    Die Kunst ist eine Wissenschaft …
    Sie leidet rhythmisch.

    Ich kann nicht lesen, denn mein ungezügelter Hang zur Kritik entdeckt nur Fehler, Mängel und mögliche Verbesserungen. Ich kann nicht träumen, denn meine Träume sind so lebensnah, daß ich sie der Wirklichkeit gleichstelle und ihre Unwirklichkeit unmittelbar spüre; daher verlieren sie ihren Wert. Ich kann mich nicht am harmlosen Betrachten von Dingen und Menschen erfreuen, mein Drang zu vertiefen ist übermächtig, und da mein Interesse nicht ohne ihn bestehen kann, wird es entweder durch ihn erlöschen oder sich erschöpfen […].
    Ich kann nicht viel anfangen mit metaphysischen Spekulationen, denn ich weiß nur zu gut und aus eigener Erfahrung, daß alle Systeme vertretbar und intellektuell vorstellbar sind; und um mich in der intellektuellen Kunst des Konstruierens von Systemen ergehen zu können, müßte ich vergessen können, daß das Ziel metaphysischer Spekulation die Suche nach der Wahrheit ist.
    Eine glückliche Vergangenheit, deren Erinnerung mich glücklich macht, mit einer Gegenwart, in der nichts mich erfreut, nichts mein Interesse weckt, weder Träume noch eine mögliche Zukunft, die anders ist als diese Gegenwart oder eine andere Vergangenheit kennt als diese Vergangenheit; ich verbringe mein Leben in Grabeshaltung, bewußtes Gespenst eines Paradieses, in dem ich niemals war, totgeborener Leib künftiger Hoffnungen.

    Glücklich, wer leidet und eins bleibt mit sich, wen die Angst ändert, aber nicht uneins werden läßt mit sich, wer glaubt, wenn auch im Unglauben, und in der Sonne sitzen kann ohne Vorbehalt.

251
    Fragmente einer Autobiographie [44]  
    Anfangs beschäftigten mich metaphysische Spekulationen, später wissenschaftliche Ideen. Zu guter Letzt waren es soziologische […]. Doch in keinem dieser Stadien meiner Suche nach Wahrheit fand ich Sicherheit oder Erleichterung. Ich las wenig, durchforstete meine Interessensgebiete kaum. Das wenige aber, das ich las, ermüdete mich mit seinen vielen widersprüchlichen Theorien, die alle gleichermaßen wissenschaftlich begründet waren, alle gleichermaßen wahrscheinlich klangen und mit einer bestimmten Auswahl von Fakten übereinstimmten, die stets wirkte, als beinhaltete sie sämtliche Fakten. Wenn ich mit müden Augen von den Büchern aufsah oder die verstörte Aufmerksamkeit meiner Gedanken auf die äußere Welt richtete, sah ich nur eines, und dies strafte jeden Nutzen meiner Lektüre und meines Denkens Lügen und riß Blütenblatt um Blütenblatt aus meiner Vorstellung von dem, was Bemühen sei: die unendliche Komplexität der Dinge, die unermeßliche Summe […], die schier unmögliche Überprüfbarkeit selbst der wenigen Fakten, die unerläßlich wären, um darauf eine Wissenschaft zu gründen.
    *
    Ich entdeckte nach und nach die Enttäuschung, nichts zu

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