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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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der Vergangenheit, geistige Bilder aus Büchern, die wirklicher für uns sind als diese verkörperte Gleichgültigkeit, die mit uns über den Ladentisch hinweg spricht, uns zufällig in der Elektrischen ansieht oder als Passant im toten Zufall der Straßen streift. Die anderen sind für mich nicht mehr als Kulisse, meist die unsichtbare einer bekannten Straße.
    So manch literarische Gestalt, so manch bildliche Darstellung steht mir näher, ist mir verwandter und vertrauter als viele der sogenannten wirklichen Menschen mit ihrer metaphysischen, Fleisch und Blut genannten Nutzlosigkeit. Und dieses »Fleisch und Blut« beschreibt sie in der Tat bestens: Sie wirken wie Fleischstücke in der marmornen Auslage einer Metzgerei, tote Leben, blutend wie lebendige, Koteletts und Keulen des Schicksals.
    Ich schäme mich dieser Gefühle nicht, denn ich habe festgestellt, daß alle so fühlen. Die scheinbar unter den Menschen herrschende Geringschätzung oder Gleichgültigkeit, die es erlaubt, zu töten wie Mörder, die nicht fühlen, daß sie töten, oder wie Soldaten, die nicht darüber nachdenken, was sie tun, rührt daher, daß niemand der scheinbar abstrusen Tatsache Beachtung schenkt, daß die anderen ebenfalls Menschenseelen sind.
    An manchen Tagen, zu manchen Zeiten, herbeigeweht von ich weiß nicht welcher Brise und mir erschlossen durch das Aufgehen ich weiß nicht welcher Tür, spüre ich mit einem Mal, daß der Kolonialwarenhändler an der Ecke ein geistiges Wesen, daß der Lehrling, der sich in diesem Augenblick an der Tür über den Kartoffelsack beugt, tatsächlich eine leidensfähige Seele ist.
    Als man mir gestern erzählte, der Angestellte des Tabakladens habe Selbstmord begangen, kam mir dies wie eine Lüge vor. Der Ärmste, er hatte also ebenfalls existiert! Wir hatten das ganz vergessen, wir alle, wir alle, die ihn auf die gleiche Weise kannten wie alle, die ihn nicht kannten. Morgen werden wir ihn um so leichter vergessen. Daß er aber eine Seele hatte, steht fest, denn schließlich hat er sich umgebracht. Leidenschaft? Angst? Zweifellos … Doch mir wie der gesamten Menschheit bleibt nur die Erinnerung an ein dümmliches Lächeln über einem buntgemusterten, schmutzigen und an den Schultern schief sitzenden Jackett. Das ist alles, was ich behalten habe von jemandem, der so stark gefühlt hat, daß er sich vor lauter Gefühl das Leben genommen hat, denn aus einem anderen Grund bringt sich wohl niemand um … Ich dachte einmal, als ich bei ihm Zigaretten kaufte, daß er bald eine Glatze bekäme. Dazu ist ihm nun keine Zeit mehr geblieben. Das ist eine der Erinnerungen, die ich an ihn habe. Was für eine sonst könnte ich haben, da sie im Grunde nicht ihm gilt, sondern an einen meiner Gedanken anknüpft?
    Plötzlich sehe ich seinen Leichnam vor mir, den Sarg, in den sie ihn gelegt, das so fremde Grab, in das sie ihn gebettet haben müssen. Und nun erkenne ich, daß der Kassierer des Tabakladens, mit seinem schiefsitzenden Jackett, in gewisser Weise die gesamte Menschheit war.
    Ein Gedankenblitz nur. Doch ist mir hier und heute klar, als Mensch, der ich bin, daß er gestorben ist. Und das ist alles.
    Jawohl, die anderen existieren nicht … Nur für mich verweilt dieser flügelschwere Sonnenuntergang mit seinen trüben, harten Farben. Nur für mich flirrt, ohne daß ich ihn fließen sehe, der große Fluß in der untergehenden Sonne. Nur für mich wurde dieser große Platz am Fluß geschaffen, dessen Wasser jetzt steigt. Hat man den Kassierer des Tabakladens heute im Massengrab beigesetzt? Der heutige Sonnenuntergang ist nicht für ihn. Doch da ich dies denke, hat er auch für mich, ohne daß ich es wollte, aufgehört zu sein …

318
    … Schiffe, die in der Nacht vorüberziehen und sich weder grüßen noch kennen.

319
    Ich erkenne heute, daß ich gescheitert bin, nur wundere ich mich bisweilen, daß ich mein Scheitern nicht vorhergesehen habe. Was in mir hätte einen Sieg vorhersagen können? Ich hatte weder die blinde Kraft der Sieger noch den sicheren Blick der Verrückten … Ich war klar und traurig wie ein kalter Tag.

    Klar umrissene Dinge sind tröstlich, und durchsonnte Dinge sind tröstlich. Das Leben unter einem blauen Himmel vorbeiziehen zu sehen entschädigt mich für vieles. Ich vergesse ohne Ende, ich vergesse mehr, als ich erinnern könnte. Mein durchscheinendes, ätherisches Herz ist erfüllt von der Hinlänglichkeit der Dinge, und ihr Betrachten macht mich zärtlich zufrieden. Nie war

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