Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
die gesellschaftlichen Bande reißen, reißt auch das gesellschaftliche Band zwischen dem Volk und jener Minderheit, die anders ist als das Volk. Und wenn das Band zwischen Minderheit und Volk reißt, bedeutet dies das Ende für Kunst und wahre Wissenschaft und das Erlöschen jener Triebkräfte, deren Existenz unentbehrlich ist für die Zivilisation.
Existieren heißt verleugnen. Was bin ich heute, ich, der ich heute lebe, wenn nicht die Verleugnung dessen, was ich gestern war, dessen, der ich gestern war? Existieren heißt sich widerrufen. Nichts verkörpert das Leben besser als Zeitungsmeldungen, die heute widerrufen, was die Zeitung gestern verbreitet hat.
Wollen heißt nicht können. Wer konnte, wollte, ehe er konnte, konnte aber erst danach. Wer will, wird niemals können, denn er verliert sich im Wollen. Ich denke, diese Prinzipien sind grundlegend.
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… armselig wie die Lebensziele für die wir leben, ohne sie wirklich anzustreben.
Die meisten Menschen, wenn nicht alle, leben ein armseliges Leben; armselig in all seiner Fröhlichkeit, armselig in fast all seinem Leid, nur nicht in dem, das auf dem Tod beruht, denn in ihm wirkt das Mysterium mit.
Durch den Filter meiner Unaufmerksamkeit dringen Geräusche herauf zu mir, vereinzelt und fließend, in Wellen, aus dem Zufall entstanden und dem Außen, als entstammten sie einer anderen Welt: Rufe von Verkäufern, die Natürliches feilbieten, wie Gemüse, oder Soziales, wie Lotterielose; das runde Rollen von Rädern – rasch vorüberholpernde Fuhrwerke und Karren; Automobile, lauter das Fahrgeräusch als die Rotation der Motoren; das Ausschütteln von etwas Lappigem an irgendeinem Fenster; das Pfeifen eines Jungen; Gelächter im Stockwerk über mir; das metallische Ächzen der Elektrischen in der Nebenstraße; das, was an Vermischtem aus der Querstraße aufsteigt; ein Mischmasch an Lautem, Leisem und Stillem; das dumpfe Dröhnen des Verkehrs; ab und an Schritte; Stimmen, einsetzend, gleichbleibend, verebbend – und all das existiert für mich, der ich es schlafend denke, wie ein Stein, der die Welt von einem Stück Gras aus betrachtet, zu dem er nicht gehört.
Und nebenan die häuslichen Geräusche zusammen mit den anderen: Schritte, Tellerklappern, Besen, ein jäh unterbrochenes Lied (ein Fado vielleicht?); ein abendliches Balkonstelldichein, der Ärger über Fehlendes auf dem Tisch; die Bitte um die Zigaretten auf der Kommode – all das ist Wirklichkeit, die anaphrodisische Wirklichkeit, die nicht in meine Phantasie dringt.
Leicht, die Schritte der jungen Dienstmagd: Pantoffeln, die ich im Geist wieder vor mir sehe, rot-schwarz betreßt, und in diesem Sehen ist etwas rot-schwarz Betreßtes vernehmbar; sichere, feste Stiefelschritte, der Sohn des Hauses geht aus, verabschiedet sich mit einem lauten »Bis später«, und die zuschlagende Tür trennt das »Bis« vom nachfolgenden »Später«, plötzliche Stille, als stünde die Welt still in diesem vierten Stock; Geschirr, das man sich anschickt zu spülen; einlaufendes Wasser; »habe ich dir nicht gesagt, daß …«, und die Stille setzt sich fort in dem Tuten, das hochhallt vom Fluß.
Und ich werde schläfrig, denke und verdaue. Habe Zeit zwischen Synästhesien. Und wunderbar ist der Gedanke, daß, würde man mich jetzt fragen, was ich wollte in diesem kurzen Leben, ich antworten würde: nichts Besseres als diese langsamen Minuten, dieses Fehlen jeglichen Denkens, Fühlens, Handelns, ja, fast der sinnlichen Wahrnehmung selbst, dieser Totgeburt eines ausschweifenden Willens. Und dann denke ich, fast ohne zu denken, daß die meisten Menschen, wenn nicht alle, so leben, ob oben oder unten, ob in Bewegung oder Stillstand, immer sind sie träge im Hinblick auf letzte Ziele, immer geben sie Vorsätze auf, immer empfinden sie das Leben als gleich. Immer wenn ich eine Katze in der Sonne sehe, denke ich an die Menschheit. Immer wenn ich jemanden schlafen sehe, denke ich, alles ist Schlaf. Immer wenn jemand mir sagt, er habe geträumt, frage ich mich, ob dieser Mensch wohl jemals daran gedacht hat, daß er immer nur geträumt hat. Die Straßengeräusche werden lauter, als sei eine Tür aufgegangen, ich höre es läuten.
Es war nichts, die Tür ging gleich wieder zu. Die Schritte verhallten am Ende des Flurs. Die Teller erheben die Stimme – ein Widerklang von Wasser und Geschirr. […]
Ein Lastwagen fährt vorüber, die hinteren Räume vibrieren, und da alles ein Ende hat, stehe ich auf aus meinem
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