Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
die wir nicht fallen sahen, noch wußten, wohin sie fielen, den Wald in Schlaf.
Keiner wollte wissen vom anderen, und doch wäre keiner weitergegangen ohne den anderen. Wir begleiteten einander wie im Schlaf. Das Geräusch der gleichklingenden Schritte half jedem, ohne den anderen zu denken, die eigenen einsamen Schritte hätten jeden von uns geweckt. Der Wald war eine Folge falscher Lichtungen, als wäre er selbst falsch oder hörte auf, doch weder der Wald hörte auf noch das Falsche. Unsere Schritte gingen unvermindert im Gleichklang, und um das Geräusch der Blätter unter unseren Füßen hörten wir das unbestimmte Geräusch von Blättern, die fielen im Wald, der alles geworden war, im Wald, der wie das Universum war.
Wer waren wir? Zwei Wesen oder zwei Formen nur eines Wesens? Wir wußten es nicht, noch fragten wir. Eine unbestimmte Sonne mußte existieren, denn es war nicht dunkel im Wald. Ein unbestimmtes Ziel mußte existieren, denn wir folgten einem Weg. Eine Welt mußte existieren, denn es existierte ein Wald. Das aber, was war oder sein konnte, war uns fremd, Wanderer, die wir waren, im Einklang und ewig, auf welken Blättern, namenlose, unmögliche Zuhörer fallender Blätter. Nicht mehr. Ein bald rauhes, bald sanftes Rauschen des unbekannten Waldes, ein bald lautes, bald leises Raunen nicht gefallener Blätter, eine Spur, ein Zweifel, eine aufgegebene Absicht; eine Illusion, die es nie gab – der Wald, die zwei Wanderer und ich, nicht wissend, wer von beiden ich war, ob beide oder keiner von beiden. Und ohne ihr Ende zu sehen, wohnte ich der Tragödie bei, die besagt, daß es nie mehr geben wird als den Herbst und den Wald und den immerfort rauhen, ungewissen Wind und die immerfort fallenden oder abgefallenen Blätter. Und immerfort, als gäbe es außerhalb mit Gewißheit eine Sonne und einen Tag, sah man deutlich hin zu keinem Ende in der lärmenden Stille des Waldes.
387
Vermutlich bin ich, was man einen Dekadenten nennt, einer, dessen Geist äußerlich durch dieses traurige Leuchten einer künstlichen Fremdheit bestimmt ist, die einer rastlosen, seiltänzerischen Seele in unerwarteten Worten Gestalt gibt. Ich spüre, daß ich so bin und daß ich absurd bin. Daher suche ich in Nachahmung einer Hypothese der Klassiker, zumindest den schmucken Empfindungen meiner Ersatzseele durch eine ausdrucksstarke Mathematik Form zu verleihen. Es kommt immer wieder vor, daß ich in einem bestimmten Stadium meines schriftlichen Nachdenkens nicht mehr weiß, wo das Zentrum meiner Aufmerksamkeit liegt – ob in den verstreuten Empfindungen, die ich zu beschreiben versuche wie unbekannte Tapisserien, ob in den Worten, in die ich mich, im Wunsch, den Akt des Beschreibens zu beschreiben, verstricke, verirre und auf diese Weise andere Dinge sehe. Neben klaren und verschwommenen Gedanken-, Bild- und Wortassoziationen sage ich, was ich empfinde, wie auch, was ich zu empfinden glaube, und unterscheide nicht mehr zwischen dem, was die Seele sagt und was die Bilder, die auf dem Boden blühen, auf den die Seele sie hat fallen lassen, ja, ich erkenne nicht einmal mehr, ob der Klang eines barbarischen Wortes oder der Rhythmus eines eingeschobenen Satzes mich nicht schon vom an sich unbestimmten Thema abbringt, von der schon eingefahrenen Empfindung, und mich entbindet von allem Denken und Sagen, wie jene großen Reisen, die man zur Zerstreuung unternimmt. Und all dies müßte, während des Wiedergebens hier, ein Gefühl von Nichtigkeit, Scheitern und Schmerz wachrufen und vermag mir doch nur goldene Schwingen zu verleihen. Sobald ich von Bildern spreche, entstehen – vielleicht, weil ich ein Zuviel an Bildern ablehne – neue Bilder in mir; sobald ich mich aufrichte, um zu verwerfen, was ich nicht empfinde, empfinde ich es bereits, und das Verwerfen wird zu einem mit Spitzen verzierten Gefühl. Sobald ich mich Irrwegen anheimgeben will, da der Glaube an mein Bemühen endgültig geschwunden ist, lassen mich ein klassischer Begriff, ein räumliches, schmuckloses Adjektiv, plötzlich, wie im Licht eines Sonnenstrahls, klar die schläfrig geschriebene Seite vor mir erkennen, und die Buchstaben aus der Tinte meines Federhalters werden zu einer absurden Landkarte magischer Zeichen. Und ich lege mich beiseite wie meinen Federhalter und hülle mich ein in meinen Umhang, lehne mich zurück, allein, fern, zwischen zwei Welten, besiegt, am Ende, wie ein Schiffbrüchiger, der, märchenhafte Inseln vor Augen, untergeht inmitten eines
Weitere Kostenlose Bücher