Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Grenze im Abstrakten, Trennstrich im Unbekannten. Ich erwache aus mir selbst, und während ich alles betrachte, nun schon voller Leben und der gewohnten Menschheit, bemerke ich, daß der Nebel, der den Himmel freigegeben hat, mit Ausnahme des fast Blauen, das noch im Blau schwebt, meine Seele wahrhaft durchdrungen hat und zugleich den Kern aller Dinge dort, wo sie meine Seele berühren. Ich habe die Vorstellung dessen, was ich sah, verloren. Ich sehe, aber bin blind. Ich fühle mit der Banalität des bereits Bekannten. Dies jetzt ist nicht mehr die Wirklichkeit: Es ist das Leben.
… Jawohl, das Leben, dem auch ich angehöre und das auch mir gehört; nicht mehr die Wirklichkeit, die nur Gott gehört oder sich selbst, die weder Geheimnis noch Wahrheit birgt, die, weil sie wirklich ist oder zu sein vorgibt, irgendwo unveränderlich existiert, frei von Zeitlichkeit oder Ewigkeit, absolutes Bild, Idee einer rein äußerlichen Seele.
Langsam, schneller als ich glaube, lenke ich meine Schritte zu der Haustür, durch die ich wieder nach oben, in mein Zimmer gehen werde. Doch ich bleibe davor stehen, zögere, gehe weiter. Die Praça da Figueira, die bunte Waren ausgähnt, füllt sich mit Käufern und meinen Horizont mit fliegenden Händlern. Ich gehe langsam, wie erstorben, weiter, und meine Art zu sehen ist nicht mehr die meine, sie ist nichts mehr: Nur mehr die Sehweise eines menschlichen Tieres, das, ohne es zu wollen, die griechische Kultur, die römische Ordnung, die christliche Moral und alle übrigen Illusionen geerbt hat, welche die Zivilisation ausmachen, innerhalb derer ich fühle.
Wo mögen die Lebenden sein?
459
Ich wäre gerne auf dem Land, um gerne in der Stadt sein zu können. Doch bin ich auch so gerne in der Stadt, dann aber wäre ich es doppelt so gern.
460
Je höher die Sensibilität und je subtiler die Fähigkeit zu fühlen, desto absurder vibriert und erschaudert sie bei den kleinen Dingen. Es bedarf einer ungewöhnlichen Intelligenz, um vor einem dunklen Tag Angst zu empfinden. Die Menschheit, die recht unsensibel ist, verspürt keine Angst vor dem Wetter, denn Wetter ist immer; sie nimmt den Regen nur wahr, wenn er ihr aufs Haupt regnet.
Der trübe, träge Tag wird feuchtheiß. Allein im Büro, lasse ich mein Leben Revue passieren, und was ich sehe, ist wie der Tag, der mich bedrückt und bedrängt. Ich sehe mich als Kind, mit allem zufrieden, als jungen Mann, der nach den Sternen greift, als reifen Mann ohne Freude und ohne Streben. Und all das geschah träge und trüb wie der Tag, der mich dies sehen oder erinnern läßt.
Wer von uns, der zurückblickt auf dem Weg ohne Umkehr, kann sagen, er habe den rechten Weg eingeschlagen?
461
Da ich weiß, wie leicht selbst kleinste Dinge mich zu quälen vermögen, vermeide ich bewußt jegliche Berührung mit ihnen. Wer wie ich darunter leidet, wenn eine Wolke vorübergehend die Sonne verdeckt, wie sollte er da nicht unter dem Dunkel des allzeit verhangenen Tages leiden, der sein Leben ist?
Meine Isolation ist keine Suche nach Glück, das zu erreichen meine seelische Kraft nicht vermag; auch keine Suche nach Ruhe, die niemand findet, es sei denn, er hat sie nie verloren, sondern eine Suche nach Schlaf, nach Verlöschen, nach bescheidenem Verzicht.
Die vier Wände meines ärmlichen Zimmers sind für mich zugleich Zelle und Distanz, Bett und Sarg. Meine glücklichsten Stunden sind jene, in denen ich an nichts denke, nichts will, nicht einmal träume, in einer Starre verloren bin wie eine mißglückte Pflanze – nur mehr Moos, das an der Oberfläche des Lebens wächst. Ich genieße ohne Bitterkeit das absurde Bewußtsein, nichts zu sein, den Vorgeschmack des Todes und des Erlöschens.
Nie hatte ich jemanden, den ich hätte »Meister« nennen können. Kein Christus ist für mich gestorben. Kein Buddha hat mir einen Weg gezeigt. Kein Apoll und keine Athene sind mir je in meinen höchsten Träumen erschienen, meine Seele zu erleuchten.
462
Da ich es mir aber zur Pflicht machte, nie zielgerichtet zu handeln im Leben, und stets bemüht war, mit den Dingen zu brechen, gelangte ich genau dahin, wovor ich zu fliehen gesucht hatte. Ich wollte das Leben nicht fühlen, nicht an den Dingen rühren, da mich meine natürliche Erfahrung im Umgang mit der Welt gelehrt hatte, daß jedes Wahrnehmen des Lebens für mich stets mit Schmerz verbunden war. Indem ich diesen Umgang aber vermied, begab ich mich ins Abseits, isolierte mich, und indem ich dies tat, steigerte
Weitere Kostenlose Bücher