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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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Geschöpfen entwickelt, an Körper und Seele.
    Und da die Seele immer dem Körper entspricht, hat sich die geistige Bekleidung durchgesetzt. Seither sind wesentliche Bereiche unserer Seele bekleidet, und wir selbst – Menschen, Körper – zählen zur Gattung der bekleideten Tiere.
    Nicht nur, weil unsere Kleidung ein wesentlicher Bestandteil von uns geworden ist, sondern auch, weil ihre komplizierte und seltsame Beschaffenheit kaum abgestimmt ist auf die natürliche Eleganz unseres Körpers und seiner Bewegungen.
    Bäte man mich, die gesellschaftlichen Gründe für meinen Seelenzustand zu erläutern, würde ich nur stumm auf einen Spiegel deuten, einen Kleiderständer und einen Füllfederhalter.

458
    Im leichten Nebel des Vorfrühlingsmorgens erwacht schlaftrunken die Unterstadt, und die Sonne geht auf, als ob sie langsam wäre. Stille Heiterkeit liegt in der leicht kühlen Luft, und das Leben fröstelt in dem sanften Wind, der nicht weht, vor einer Kälte, die bereits vorüber ist, es fröstelt eher in der Erinnerung an Kälte als vor Kälte, weniger wegen des derzeitigen Wetters als vielmehr wegen des erst nahenden Sommers.
    Bis auf die Milchgeschäfte und Kaffeehäuser ist noch alles geschlossen, aber die Ruhe ist keine sonntägliche Erstarrung, sondern schlicht Ruhe. Ein blonder Streif kündigt sich in der aufklarenden Luft an, und das Blau errötet leicht durch den sich auflösenden Nebel hindurch. In den Straßen die ersten Anzeichen von Bewegung, jeder einzelne Fußgänger hebt sich deutlich ab, und oben, an den wenigen offenen Fenstern, erscheinen ebenfalls morgendliche Gestalten. Die Elektrischen ziehen in der Nebelluft ihre bewegliche, gelbe Zahlenspur. Und von Minute zu Minute beleben sich spürbar die Straßen.
    Ich lasse mich treiben, bin ganz sinnliche Aufmerksamkeit, ohne Gedanken und ohne Gefühl. Ich bin früh aufgewacht und ohne Vorurteile hinaus ins Freie. Ich betrachte alles prüfend wie ein Grübler. Sehe wie einer, der nachdenkt. Und ein leichter Gefühlsnebel steigt absurd in mir auf; der äußere Nebel scheint langsam in mich einzudringen.
    Unwillkürlich fühle ich, daß ich soeben über mein Leben nachgedacht habe. Ich habe es selbst nicht bemerkt, aber so war es. Ich glaubte, ich sähe und hörte nur, wäre während meines ganzen müßigen Umherschlenderns nur ein Reflektor vorgegebener Bilder gewesen, eine weiße spanische Wand, auf welche die Wirklichkeit Farben und Licht anstelle von Schatten projiziert. Aber ich war mehr, ohne es zu wissen. Ich war die sich selbst verneinende Seele, und auch mein abstraktes Beobachten war Verneinung.
    Die Luft trübt sich, weil der Nebel fehlt, sie trübt sich mit blassem Licht, mit dem sich der Nebel gleichsam vermischt hat. Mit einem Mal fällt mir auf, daß der Lärm viel größer und die Menschen viel zahlreicher geworden sind. Je mehr Passanten, desto weniger eilig die Schritte. Und schon löst sich aus der sich verringernden Hast der anderen der Laufschritt der Fischweiber, die riesigen schwankenden Körbe der Bäckerjungen, die unterschiedliche Ähnlichkeit der Händlerinnen alles anderen, aufgehoben nur durch den Inhalt ihrer Körbe, in denen die Farben vielfältiger sind als das Feilgebotene. Die Milchmänner klappern mit den ungleichen Blechkannen ihres ambulanten Berufes wie mit hohlen absurden Schlüsseln. Die Polizisten erstarren an den Kreuzungen, ein uniformiertes Dementi der Zivilisation in der unsichtbaren Bewegung des anbrechenden Tages.
    Wie gerne wäre ich doch in diesem Augenblick jemand, der dies alles nur mit seinen Augen sehen, dies alles nur betrachten könnte wie ein erwachsener Reisender, der heute an die Oberfläche des Lebens gelangt ist! Von Geburt an nicht gelernt zu haben, diesen Dingen allen überkommenen Sinn zu verleihen, sondern sie mit dem Ausdruck zu erleben, den sie abgetrennt von dem ihnen auferlegten Ausdruck besitzen. Im Fischweib die menschliche Wirklichkeit erkennen, unabhängig davon, daß man sie Fischweib nennt und weiß, es gibt sie, und sie ist Händlerin. Den Polizisten sehen, wie Gott ihn sieht. Alles zum ersten Mal wahrnehmen, nicht apokalyptisch als Offenbarung des Mysteriums, sondern unmittelbar als Blüte der Wirklichkeit.
    Jetzt erklingen – es sind wohl acht, aber ich zähle sie nicht – die Schläge einer Glocke oder einer großen Uhr. Ich erwache aus mir selbst durch das banale Vorhandensein von Stunden, Begrenzungen, die das Leben in der Gesellschaft der fortdauernden Zeit auferlegt,

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