Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
entgegengesetzt handeln – sicher zu sein, daß wir ganz wir selbst sind, in völligem Mißklang mit allem Anderssein.
Der einzige Vorteil des Lernens liegt in der Freude über all das von anderen nicht Gesagte.
Kunst ist Einsamkeit. Jeder Künstler sollte versuchen, anderen zur Einsamkeit zu verhelfen, in ihren Seelen den Wunsch nach Alleinsein zu wecken. Der höchste Triumph für einen Dichter ist, wenn die Leser seine Werke lieber besitzen als lesen. Solches widerfährt berühmten Dichtern zwar nicht zwangsläufig, doch ist es der höchste Tribut […]
Klar sehen heißt uneins sein mit sich selbst. Der richtige Geisteszustand für die nach innen gerichtete Beobachtung ist der […], den man beim Beobachten der eigenen Nerven und Unschlüssigkeiten empfindet.
Die einzige eines überlegenen Menschen würdige Geisteshaltung ist ein ruhiges, kaltes Mitgefühl für alles, was nicht er selbst ist. Zwar ist diese Haltung nicht im geringsten berechtigt und richtig, doch immerhin so beneidenswert, daß man sie unbedingt einnehmen sollte.
Millimeter (Wahrnehmungen kleinster Dinge)
Die Gegenwart ist uralt, da alles, als es existierte, Gegenwart war; und so empfinde ich für Dinge, da sie der Gegenwart angehören, die Liebe eines Antiquitätenhändlers und die Empörung eines übervorteilten Sammlers, den man mit plausiblen oder gar wissenschaftlich fundierten Argumenten um seine irrigen Vorstellungen über Dinge gebracht hat.
Die verschiedenen Positionen, die ein fliegender Schmetterling nacheinander im Raum einnimmt, sind für meine verwunderten Augen verschiedene Dinge, die im Raum sichtbar bleiben. Meine Erinnerungen sind so lebendig, daß […] Doch wirklich intensiv erlebe ich nur die kleinsten Wahrnehmungen allerkleinster Dinge. Vielleicht hat dies mit meiner Vorliebe für Belangloses zu tun. Oder aber mit meinem besonderen Interesse für das Detail. Doch ich glaube eher – sicher bin ich mir nicht, da dies Dinge sind, die ich niemals analysiere –, es hat vielmehr damit zu tun, daß das Kleinste, da ihm gesellschaftlich und praktisch keinerlei Bedeutung zukommt, aus genau diesem Grund absolut frei ist von schmutzigen Assoziationen mit der Wirklichkeit. Das Kleinste schmeckt mir nach Unwirklichem. Das Nutzlose ist schön, weil es weniger wirklich ist als das Nützliche, das fortdauert und weiterführt, während das wunderbar Belanglose, das rühmlich winzig Kleine bleibt, wo es ist, und nicht mehr ist, als es ist, und frei und unabhängig lebt. Das Nutzlose und das Belanglose eröffnen in unserem wirklichen Leben Zeiträume von bescheidener Ästhetik. Die bloße, unbedeutende Existenz einer Anstecknadel vermag in meiner Seele die zärtlichsten Freuden und Phantasien wachzurufen! Und wer um dies alles nicht weiß, um den ist es traurig bestellt!
Ferner ist unter den Wahrnehmungen, die so tief schmerzen, daß sie bereits wieder angenehm werden, die vom Geheimnis ausgehende Unruhe eine der häufigsten und vielschichtigsten. Und das Geheimnis wird nie so sichtbar wie beim Betrachten kleinster Dinge, die sich nicht bewegen, daher ganz und gar durchscheinend sind und dem Geheimnis erlauben, zutage zu treten. Das Geheimnis ist jedoch sehr viel schwerer wahrnehmbar, wenn man eine Schlacht betrachtet – obgleich die Vergegenwärtigung des Unsinnigen menschlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in unseren Köpfen die Fahne des Sieges über das Geheimnis am weitesten zu entfalten vermag –, als beim Betrachten eines kleinen reglosen Steins auf einer Straße, der, da er keine andere Vorstellung als die seiner Existenz auslöst, uns, sofern wir weiter darüber nachdenken, unweigerlich zum Geheimnis seiner Existenz führt.
Gesegnet seien Augenblicke, Millimeter und Schatten kleiner Dinge, die noch bescheidener sind als sie selbst! Augenblicke […]. Millimeter – ich bin erstaunt, wie kühn sie sich Seite an Seite und so eng beieinander auf einem Meterband behaupten. Bisweilen schmerzen und erfreuen mich derlei Dinge, und ich empfinde ungezügelten Stolz.
Ich bin eine extrem aufnahmefähige photographische Platte. Alle Einzelheiten graben sich mir im Verhältnis zum Ganzen unproportional deutlich ein. Ich beschäftige mich ausschließlich mit mir. Die Außenwelt ist für mich reine Wahrnehmung. Nie vergesse ich, daß ich wahrnehme.
Im Wald der Entfremdung
Ich weiß, ich bin wach und schlafe noch. Mein alter, vom Leben müder Körper sagt mir, daß es noch sehr früh ist … Ich fühle ein
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