Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
lebe immer in der Gegenwart. Die Zukunft kenne ich nicht. Die Vergangenheit gehört mir nicht mehr. Die eine lastet auf mir wie die Möglichkeit zu allem, die andere wie die Wirklichkeit von nichts. Ich habe weder Hoffnungen noch Sehnsüchte. Da ich weiß, was mein Leben bis heute war – so viele Male und in so vielem das Gegenteil dessen, was ich mir gewünscht hatte –, was kann ich da mutmaßen über mein morgiges Leben? Einzig daß es sein wird, was ich nicht vermute, was ich nicht will und was mir von außen zustößt, bisweilen selbst durch mein eigenes Zutun. Da ist nichts in meiner Vergangenheit, an das ich mich erinnerte und mir vergeblich wünschte, es gäbe dafür eine Wiederholung. Ich war immer nur eine Spur, ein Trugbild meiner selbst. Meine Vergangenheit ist all das, was ich nicht zu sein vermochte. Nicht einmal entschwundene Augenblicke rufen Gefühle der Sehnsucht in mir wach: Gefühle verlangen den Augenblick; ist dieser vorüber, wird eine neue Seite aufgeschlagen, und die Geschichte geht weiter, nicht aber der Text.
Kurzer, dunkler Schatten eines städtischen Baumes, leichtes Wasserplätschern in ein tristes Becken, Grün des getrimmten Rasens, öffentlicher Park bei anbrechender Dämmerung – ihr seid in diesem Augenblick das gesamte Universum für mich, denn ihr nehmt mein bewußtes Wahrnehmen ganz und gar in Besitz. Ich möchte vom Leben nicht mehr als wahrnehmen, wie es sich in diesen unvorhersehbaren Nachmittagen verliert zum Geschrei fremder Kinder, die in Parks wie diesem spielen, eingezäunt von der Melancholie der sie umgebenden Straßen, und jenseits des hohen Geästs der Bäume die Kuppel des alten Himmels, an dem die Sterne wiederaufflammen.
101
Wenn unser Leben ein ewiges Stehen am Fenster wäre und wir so bleiben könnten, wie stehender Rauch, für immer, mit dem immerselben Augenblick der Dämmerung, wie ein Schmerz auf der Linie der Hügel … Wenn wir so bleiben könnten über alle Zeit hinaus! Wenn es möglich wäre diesseits der Unmöglichkeit, ohne zu handeln, ohne daß unsere Lippen sich mit weiteren Worten versündigen!
Sieh nur, wie es allmählich dunkel wird! … Die positive Ruhe von allem erfüllt mich mit Zorn, schmeckt bitter beim Atemholen. Meine Seele schmerzt mich … Langsam steigt ein Rauchfaden auf und verfliegt in der Ferne … Banger Überdruß lenkt meine Gedanken ab von dir …
So überflüssig alles! Wir, die Welt und beider Geheimnis.
102
27 . 6 . 1930
Das Leben ist für uns das, was wir in ihm sehen. Für den Bauern, dem sein Feld alles bedeutet, ist dieses Feld ein Imperium. Für den Cäsar, dem sein Imperium nicht genügt, ist dieses Imperium ein Feld. Der Arme besitzt ein Imperium; der Große besitzt ein Feld. Tatsächlich besitzen wir einzig unsere eigenen Wahrnehmungen; auf sie und nicht auf das, was sie sehen, müssen wir demnach die Wirklichkeit unseres Lebens gründen.
Das sage ich in einer bestimmten Absicht.
Ich habe viel geträumt. Ich bin es müde, geträumt zu haben, doch nicht müde zu träumen. Des Träumens wird niemand müde, denn träumen heißt vergessen, und vergessen bedrückt nicht, es ist ein traumloser Schlaf, in dem wir wach sind. In Träumen habe ich alles erreicht. Ich bin auch aufgewacht, aber was macht das schon aus? Wie viele Cäsaren war ich nicht! Und die Ruhmreichen, welche Kleingeister! Cäsar, durch die Großmut eines Piraten vom Tod errettet, ließ diesen Piraten suchen, gefangennehmen und kreuzigen. Als Napoleon auf St. Helena sein Testament machte, setzte er einem Verbrecher, der versucht hatte, Wellington zu ermorden, ein Legat aus. O Größe, wie gleichst du der Seelengröße meiner schielenden Nachbarin! O große Männer der Köchin einer anderen Welt! Wie viele Cäsaren war ich und träume ich noch immer zu sein!
Wie viele Cäsaren war ich, wenngleich nie ein wirklicher! Wahrhaft kaiserlich war ich nur im Traum, weshalb ich auch nie etwas war. Meine Heere wurden geschlagen, aber die Niederlage war eine matte Sache, und niemand verlor dabei sein Leben. Ich habe keine Banner verloren. In meinen Träumen sehe ich nie ein Heer mit Bannern, eine Ecke verstellt mir immer die Sicht. Wie viele Cäsaren war ich nicht hier, in der Rua dos Douradores! Und die Cäsaren, die ich war, leben weiter in meiner Phantasie; aber die einstigen Cäsaren sind tot, und die Rua dos Douradores, das heißt die Wirklichkeit, kann sie nicht kennen.
Ich werfe die leere Streichholzschachtel in den Abgrund der Straße,
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