Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
Vom Netzwerk:
träumen, ohne Worte zu sagen, ohne Bewußtsein, durch ein Mich-selbst-Erfinden in Musik und Unklarheit, und Tränen stiegen mir in die Augen, kaum fühlte ich, daß ich Worte fände und im sanften Gefälle meiner selbst fließen würde wie ein verzauberter Fluß, weiter, immer weiter zum Unbewußten und Fernen hin, ohne Ziel, bis auf Gott.

93
    Die Intensität meiner Empfindungen war immer geringer als die Intensität meines Bewußtseins von ihnen. Ich habe stets mehr unter dem Bewußtsein zu leiden gelitten als unter dem Leid, von dem ich Bewußtsein hatte.
    Das Leben meiner Gemütsbewegungen ist von Anfang an in die Räume des Denkens gezogen, dort habe ich meine gefühlsmäßige Erkenntnis des Lebens stets weitgreifender erlebt.
    Und da das Denken, wenn es die Emotion beherbergt, anspruchsvoller wird als die Emotion selbst, machte der Bewußtseinszustand, in dem ich fortan meine Gefühle erlebte, meine Art zu fühlen alltäglicher, hautnaher, prickelnder.

    Denkend schuf ich mich zu Echo und Abgrund. Ich vervielfachte mich, indem ich mich vertiefte. Das kleinste Vorkommnis – eine Veränderung des Lichtes, der eingerollte Fall eines trockenen Blattes, das Blumenblatt, das sich welk löst, die Stimme auf der anderen Seite der Mauer oder die Schritte dessen, der spricht, im Verein mit den Schritten desjenigen, der sie vernimmt, das halb geöffnete Portal des alten Gutes, der Innenhof, der sich unter dem Bogen der im Mondlicht zusammengescharten Häuser auftut – all diese Dinge, die mir nicht gehören, fesseln mein empfindsames Nachdenken mit Banden des Widerhalls und der Sehnsucht. In jeder einzelnen dieser Wahrnehmungen bin ich ein anderer, erneuere mich schmerzlich in jedem unbestimmten Eindruck.
    Ich lebe von Eindrücken, die nicht die meinen sind, ich bin ein Verschwender des Verzichts, ein Anderer in der Art, wie ich ich bin.

94
    18 .  5 .  1930
    Leben heißt ein Anderer sein. Nicht einmal Fühlen ist möglich, wenn man heute fühlt, wie man gestern gefühlt hat: Heute dasselbe fühlen wie gestern heißt nicht fühlen – heißt sich heute an das erinnern, was man gestern gefühlt hat, heißt heute der lebendige Leichnam dessen sein, was gestern gelebt und verlorenging.
    Alles auf der Tafel von einem Tag zum anderen auslöschen, neu sein mit jedem anbrechenden Morgen, in einem ständigen Wiederaufleben unserer emotionalen Jungfräulichkeit, das, allein das lohnt die Mühe, zu sein oder zu haben, um zu sein oder zu haben, was wir auf unvollkommene Weise sind.
    Dieser anbrechende Morgen ist der erste der Welt. Nie fiel dieses ins warme Weiß verblassende Rosa so zum Westen hin auf das Antlitz der Häuser, deren Fenster wie unzählige Augen die mit dem aufgehenden Licht entstehende Stille betrachten. Nie gab es diese Stunde, nie dieses Licht, noch dieses mein Sein. Was morgen sein wird, wird anders sein, und was ich sehen werde, werden Augen sehen, erfüllt von einem neuen Blick.
    Hohe Hügel der Stadt! Große Baukunst, steile Hänge, die sie festhalten und noch größer machen, bunte Zusammenballung stufenförmig ansteigender Gebäude, die das Licht aus Schatten und Bränden webt – ihr seid heute, ihr seid ich, weil ich euch sehe, ihr seid morgen, was [ich sein werde?], und ich liebe euch, an der Reling stehend, als kreuzten einander zwei Schiffe und hinterließen eine ungekannte Sehnsucht.

95
    18 .  5 .  1930
    Ich habe ungekannte Stunden verbracht, eine Abfolge loser Augenblicke, während meines nächtlichen Spaziergangs am einsamen Meer. Alle Gedanken, die Menschen je leben ließen, alle Emotionen, die Menschen je aufhörten zu leben, gingen mir bei meiner Meditation am Meer wie ein dunkles Resümee der Geschichte durch den Sinn.
    Ich durchlebte in mir, mit mir das Streben aller Epochen, und die Unruhe aller Zeiten begleitete mich entlang des Meeres, das ich hörte. Was Menschen wollten und nicht taten, was sie zerstörten, indem sie es taten, was ihre Seelen waren und was keiner je sagte – all dies erfüllte die fühlende Seele, mit der ich nachts am Meer entlangging. Was Liebende an Geliebten befremdete, was die Frau ihrem Ehemann stets verheimlichte, wie die Mutter sich das Kind vorstellte, das sie nie hatte, was sich nur in einem Lächeln äußerte oder bei einer Gelegenheit, zu einer anderen Zeit oder in einem fehlenden Gefühl – all das begleitete mich auf meinem Spaziergang am Meer und kehrte zurück mit mir, und die Wellen brandeten jene große Begleitmusik, die mich alles

Weitere Kostenlose Bücher