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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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schlafend erleben ließ.
    Wir sind, wer wir nicht sind, und das Leben ist kurz und trist. Das Geräusch der nächtlichen Wellen ist ein Geräusch der Nacht; wie viele haben es in ihrer eigenen Seele wahrgenommen, wie eine sich beständig im Dunkel mit dem dumpfen Geräusch hohlen Schaums zerschlagende Hoffnung! Wie viele Tränen haben all jene geweint, die etwas erreichten, wie viele Tränen haben all jene verloren, die etwas vollbrachten! Und all dies vertrauten mir während meines Spaziergangs am Meer Nacht und Abgrund als Geheimnis an. Wie viele sind wir! Und wie viele täuschen sich selbst! Welche Meere hallen in uns wider in der Nacht unseres Seins an den Stränden, als die wir uns empfinden, überschwemmt von der Emotion! Was man verlor und was man hätte wollen sollen, was man irrtümlich erfüllte und erreichte, was wir liebten und verloren und, als wir es verloren hatten, liebten, weil wir es verloren hatten, und erkannten, daß wir es nie geliebt hatten; was wir glaubten zu denken, als wir fühlten; alle Erinnerungen, die wir für Emotionen hielten; und das Meer, das lärmend und frisch aus der großen Tiefe der Nacht heranrollt und fein ausläuft auf dem Strand während meines nächtlichen Spaziergangs am Meer …
    Wer weiß wenigstens, was er denkt oder was er wünscht? Wer weiß, was er für sich selbst bedeutet? Wie vieles suggeriert uns die Musik, und es ist uns recht, daß es nicht sein kann! Wie vieles ruft uns die Nacht in Erinnerung, und wir weinen, und doch ist es nie gewesen! Wie eine sich aus diesem weiten, horizontalen Frieden erhebende Stimme rollt eine Welle heran, bricht krachend, beruhigt sich, und ihr Geifer versickert zischend auf dem unsichtbaren Strand.
    Wie sehr sterbe ich, wenn ich um aller Dinge willen fühle! Wie sehr fühle ich, wenn ich so umhergehe, unkörperlich und menschlich, und mein Herz still ist wie ein Strand, und das gesamte Meer aller Dinge, in dieser Nacht, in der wir leben, laut und spöttisch brandet, ehe es sich beruhigt, auf meinem ewig nächtlichen Spaziergang am Meer!

96
    Ich sehe geträumte Landschaften so deutlich wie wirkliche. Beschäftige ich mich mit meinen Träumen, beschäftige ich mich mit etwas Wirklichem. Sehe ich das Leben vergehen, so träume ich etwas.
    Irgendwer sagte von irgendwem, für ihn seien Traumgestalten so klar umrissen und greifbar wie Gestalten des wirklichen Lebens. Obgleich ich verstehe, daß man mir einen solchen Satz ohne weiteres zuschreiben könnte, trifft er dennoch nicht auf mich zu. Für mich sind Traumgestalten nicht identisch mit Gestalten des wirklichen Lebens. Sie bestehen neben ihnen. Jedes Leben – das der Träume wie das der Welt – besitzt seine eigene Wirklichkeit, ebenso wahr wie die andere und doch anders. Ebenso verhält es sich mit nahen und fernen Dingen. Traumgestalten sind mir näher, aber […]

97
    Der wahrhaft Wissende richtet sich innerlich so ein, daß ihm äußere Vorkommnisse nur wenig anhaben können. Dazu muß er sich mit einem Panzer aus Wirklichkeiten umgeben, die ihm näher sind als die eigentlichen Tatsachen und durch den ihn die Tatsachen entsprechend abgewandelt erreichen.

98
    Ich bin heute sehr früh aufgewacht, jäh und verwirrt, und erhob mich sofort aus dem Bett, unbegreifliche Abscheu schnürte mir die Kehle zu. Kein Traum hatte sie verursacht; keine Wirklichkeit hätte sie auslösen können. Eine abgrundtiefe absolute Abscheu, die dennoch ihre Ursache hatte. In der dunklen Tiefe meiner Seele trugen unbekannte Kräfte unsichtbar eine Schlacht aus, bei der mein Wesen das Schlachtfeld hergab, der unsichtbare Zusammenprall erschütterte mich bis ins Mark. Ein physischer Ekel vor dem gesamten Leben kam mit meinem Erwachen auf. Ein Entsetzen, leben zu müssen, erhob sich mit mir aus dem Bett. Alles erschien mir hohl, und ich hatte den eisigen Eindruck, daß es für kein Problem auf der Welt eine Lösung gibt.
    Ich war zutiefst beunruhigt und zitterte bei der geringsten Geste. Ich fürchtete, den Verstand zu verlieren, aber weniger an den Wahnsinn als an die Situation. Mein Körper war ein stummer Schrei. Mein Herz schlug, als könnte es sprechen.
    Mit langen, falschen Schritten, die ich vergeblich anders zu setzen suchte, durchlief ich barfuß die kurze Länge meines Zimmers und die leere Diagonale des Innenzimmers, dessen Tür an der Ecke zum Korridor liegt. Mit fahrigen, ungenauen Bewegungen berührte ich die Bürsten auf der Kommode, stellte einen Stuhl um, und einmal schlug meine

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