Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
hinunter, und die Wirklichkeit inexistenter Leben bindet mir zärtlich ein weißes Tuch falscher Erinnerungen um die Stirn. Ich bin ein Seemann im Verkennen meiner selbst. Ich habe alles besiegt, wo ich niemals war. Und diese Schläfrigkeit, die mir zu gehen erlaubt, vorwärts strebend zum Unmöglichen hin, fühlt sich an wie ein frischer, sanfter Wind.
Jeder hat seinen Alkohol. Ich finde meinen Alkohol im Existieren. Trunken vor Selbst-Gefühl, gehe ich einher und gehe sicher. Wenn es an der Zeit ist, finde ich mich wie jeder andere im Büro ein. Wenn es nicht an der Zeit ist, gehe ich zum Fluß und betrachte wie jeder andere den Fluß. Ich bin nicht anders als andere. Und über alledem, mein Himmel, bestirne ich mich insgeheim und habe meine Unendlichkeit.
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Jeder, der heute liebt, es sei denn, er besitzt die moralische Statur und das geistige Profil eines Pygmäen oder ungeschlachten Menschen, liebt, wenn er liebt, romantisch. Die romantische Liebe ist ein verfeinertes Produkt jahrhundertelangen christlichen Einflusses; sowohl die Substanz als auch die Entwicklungsstadien dieser Liebe lassen sich, will man sie einem Unwissenden erklären, mit einem Kleidungsstück oder Kostüm vergleichen, das Seele oder Phantasie schneidern, um es all jenen anzuziehen, die ihren Lebensweg kreuzen und von denen der Geist glaubt, es passe ihnen.
Aber jedes Kostüm hält, da es nicht ewig ist, nur so lange, wie es hält; und binnen kurzem wird unter dem zerschlissenen Kleid des Ideals, das wir uns geschaffen haben, der wirkliche Körper der Person sichtbar, der wir es angezogen haben.
Die romantische Liebe ist infolgedessen ein Weg zur Enttäuschung. Sie ist es nur dann nicht, wenn man die Enttäuschung von Anfang an einkalkuliert und beschließt, das Ideal beständig zu wechseln und in den Werkstätten der Seele beständig neue Kleider zu weben, die dem, der sie trägt, beständig ein neues Aussehen verleihen.
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25 . 7 . 1930
Wir lieben niemanden, nie. Wir lieben allein die Vorstellung, die wir von jemandem haben. Unsere eigene Idee – uns selbst also – lieben wir.
Das gilt für die ganze Bandbreite der Liebe. In der sexuellen Liebe suchen wir unser Vergnügen vermittels eines fremden Körpers. In der nichtsexuellen Liebe suchen wir unser Vergnügen vermittels unserer Vorstellung. Der Onanist mag abstoßend sein, doch genaugenommen ist er der vollkommene logische Ausdruck des Liebenden. Als einziger gibt er weder etwas vor, noch betrügt er sich selbst.
Die Beziehungen zwischen zwei Seelen vermittels so ungewisser und gegensätzlicher Dinge wie geläufiger Worte und Gesten sind erstaunlich vielschichtig. Selbst im Augenblick des Erkennens wissen wir nichts voneinander. Zwei Menschen sagen »ich liebe dich« oder denken und fühlen es gegenseitig, und doch verbindet jeder damit eine andere Vorstellung, ein anderes Leben, vielleicht sogar eine andere Farbe, ein anderes Aroma oder einen anderen Duft innerhalb der abstrakten Summe von Eindrücken, die das Seeelenleben ausmacht.
Ich sehe heute so klar, als existierte ich nicht. Mein Denken ist nackt wie ein Skelett, bar aller Fleischfetzen der Illusion des Ausdrucks. Und die Betrachtungen, die ich hier anstelle und wieder verwerfe, beruhen auf nichts – zumindest auf nichts aus den ersten Reihen meines Bewußtseins. Vielleicht war es der Liebeskummer des kaufmännischen Angestellten, vielleicht irgendein Satz aus einer dieser Liebesgeschichten, die unsere Zeitungen von der ausländischen Presse übernehmen, vielleicht auch ein unbestimmter Ekel, den ich mit mir herumtrage und dessen Grund für mich nicht in meinem Körper liegt …
Vergils Scholiast täuschte sich. Insbesondere das Verstehen ermüdet uns. Leben heißt, nicht denken.
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Zwei, drei Tage, ähnlich dem Beginn einer Liebe …
Für den Ästheten einzig wegen der Empfindungen, die solches bei ihm auslöst, von Interesse. Weiterzugehen hieße den Bereich von Eifersucht, Leid und Erregung betreten. In diesem Vorzimmer der Gefühle findet man die ganze Süße der Liebe ohne ihre Tiefe – einen leichten Genuß mithin, ein vages Aroma von Wünschen; und wenn auf diese Weise alles Große verlorengeht, das der Tragik jeder Liebe innewohnt, so vergesse man nicht, daß der Ästhet Tragödien zwar mit Interesse verfolgt, aber nur ungern selbst erleidet. Die Sorge um die eigene Befindlichkeit verringert die Sorge um die Phantasie. Es herrscht, wer sich über das Gewöhnliche erhebt.
Ich könnte mich
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