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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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Zwischenspiels [36]   , eine Morgendämmerung, die auf sich warten läßt. Alles verwandelt sich mir in etwas Absolutes, an sich selbst Gestorbenes, in einen Stillstand von Einzelheiten. Und selbst meine Sinne, auf die ich mein Denken übertrage, um es zu vergessen, sind eine Art Schlaf, etwas Fernes, Beiläufiges, etwas dazwischen, Zufälle der Schatten und der Verwirrung.
    In solchen Augenblicken, in denen ich Asketen und Weltflüchtige verstehen könnte, könnte ich denn verstehen, warum jemand all seine Kräfte für etwas Absolutes mobilisiert oder auf irgendeinen Glauben verwendet, der eine Kraft zu wecken vermag, würde ich, wenn ich es könnte, eine ganze Ästhetik der Untröstlichkeit erschaffen, den inneren Rhythmus eines Wiegenliedes, gefiltert von der Zärtlichkeit der Nacht an anderen, fernen Heimstätten.
    Heute traf ich nacheinander auf der Straße zwei meiner Freunde, die sich zerstritten hatten. Jeder erzählte mir, wie es zu dem Streit gekommen war. Jeder sagte mir die Wahrheit. Jeder legte mir seine Gründe dar. Beide waren im Recht. Beide waren vollkommen im Recht. Keiner sah etwas, das der andere nicht gesehen hätte, keiner sah die Sache von nur einer Seite. Nein, jeder sah den Sachverhalt so, wie er war, jeder sah ihn unter dem gleichen Gesichtspunkt wie der andere, doch sah ihn jeder anders, und somit hatte jeder recht.
    Diese doppelte Existenz der Wahrheit verwirrte mich.

208
    So wie wir alle, wissend oder nicht wissend, eine Metaphysik haben, haben wir auch alle, wollend oder nicht wollend, eine Moral. Meine Moral ist überaus einfach: niemandem weder Gutes tun noch Schlechtes zufügen. Niemandem Schlechtes zufügen, nicht nur, da ich anderen das gleiche Recht wie mir zuerkenne, nämlich das Recht auf ein unbehelligtes Leben, sondern auch, da ich denke, daß das naturgegebene Übel ausreicht an notwendig Schlechtem in der Welt. Wir alle leben in dieser Welt an Bord eines Schiffes, das von einem Hafen, den wir nicht kennen, unterwegs ist zu einem Hafen, von dem wir nichts wissen, und wir müssen füreinander die Liebenswürdigkeit von Menschen aufbringen, die sich auf einer gemeinsamen Reise befinden. Niemandem Gutes tun, da ich nicht weiß, was gut ist, noch weiß, ob ich es tue, wenn ich glaube, daß ich es tue. Weiß ich denn, was ich an Schlechtem bewirke, wenn ich ein Almosen gebe? Und weiß ich, was ich an Schlechtem bewirke, wenn ich erziehe oder unterrichte? Im Zweifelsfall sehe ich davon ab. Zudem glaube ich, daß helfen oder aufklären in gewisser Weise zu einem üblen Eingreifen in fremde Leben wird. Die Güte ist eine Laune des Temperaments: Es steht uns nicht an, andere zu Opfern unserer Launen zu machen, auch wenn dies Zeichen von Menschlichkeit und Zärtlichkeit sind. Wohltaten sind etwas, das man aufdrängt; daher lehne ich sie rundweg ab.
    Wenn ich nicht aus moralischer Überzeugung Gutes tue, erwarte ich solches auch nicht von anderen. Erkranke ich, belastet mich vor allem der Gedanke, es könnte sich jemand veranlaßt fühlen, mich zu pflegen, etwas, das ich nur äußerst ungern für einen anderen täte. Ich habe nie einen kranken Freund besucht. Und wann immer ich krank war und man mich besuchte, empfand ich einen solchen Besuch als störend, beleidigend und ungerechtfertigten Eingriff in meine ureigene Privatsphäre. Ich mag es nicht, wenn man mir etwas schenkt; es ist als nötige man mich, ebenfalls etwas zu schenken – den Gebern oder anderen oder wem auch immer.
    Ich bin äußerst gesellig, auf eine äußerst negative Weise. Ich bin die Verträglichkeit in Person. Aber mehr als das bin, will und kann ich nicht sein. Ich empfinde allem Existierenden gegenüber eine visuelle Zuneigung, eine rationale Zärtlichkeit – nichts im Herzen. Ich glaube an nichts, hoffe auf nichts, liebe nichts. Sie ekeln und erstaunen mich, die Aufrichtigen aller Aufrichtigkeiten, die Mystiker aller Mystizismen, oder genauer, die Aufrichtigkeit aller Aufrichtigen und die Mystizismen aller Mystiker. Dieser Ekel wird fast physisch, wenn diese Mystizismen aktiv werden, wenn sie versuchen, andere Menschen zu überzeugen oder dahin gehend zu beeinflussen, daß sie die Wahrheit finden oder die Welt verändern wollen.
    Ich betrachte mich als glücklich, keine Familie mehr zu haben. Somit sehe ich mich nicht verpflichtet, jemanden zu lieben, dies würde mich unweigerlich belasten. Sehnsucht verspüre ich nur literarisch. Ich entsinne mich meiner Kindheit unter Tränen, aber es sind rhythmische

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