Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
verlöschenden Licht in der hohen Wolke – das Geheimnis, die Wahrheit, das Glück, vielleicht dieses Ich-weiß-nicht-was, in dem das Leben liegt. Das ist alles, was mir bleibt, wie eine fehlende Sonne, und über den verschieden hohen Dächern läßt das Licht seine Hände langsam nach unten gleiten, bis in der Geschlossenheit der Dächer aller innere Schatten sichtbar wird.
Verschwommen flackernder Tropfen, kleines, fernes Leuchten des ersten Sterns.
217
Was auch immer unsere Sensibilität bewegt, so angenehm es auch sein mag, es stört stets das mir rätselhafte Eigenleben dieser Sensibilität. Nicht nur große Sorgen, sondern auch kleine Ärgernisse lenken uns von uns ab und trüben den Seelenfrieden, nach dem wir uns alle unwillkürlich sehnen.
Wir leben zumeist außerhalb unserer selbst, und das Leben ist eine fortwährende Zerstreuung. Und doch zieht es uns zu uns selbst wie zu einem Mittelpunkt, um den wir gleich Planeten absurde, ferne Ellipsen beschreiben.
218
Ich bin älter als Zeit und Raum, denn ich bin bewußt. Die Dinge stammen ab von mir; die Natur ist die Erstgeborene meiner Empfindungen.
Ich suche – und finde nicht. Ich will und kann nicht.
Ohne mich geht die Sonne auf und erlischt; ohne mich fällt der Regen und heult der Wind. Nicht meinetwegen gibt es Jahreszeiten, Monate, Stunden, die vergehen.
Herr der Welt in mir, die ich, wie auch weltlichen Besitz, nicht mit mir nehmen kann, […]
219
Meine Seele, dieser betriebsame Ort von Empfindungen, geht bisweilen bewußt mit mir durch die nächtlichen Straßen der Stadt, während jener ermüdenden Stunden, in denen ich mich als Traum unter Träumen einer anderen Art empfinde – im Licht […] der Gaslaternen und dem flüchtigen Lärm der Fahrzeuge.
Während ich mit meinem Körper in Seitenstraßen und Gassen vordringe, verliert sich meine Seele in verworrenen Labyrinthen der Wahrnehmung. All dies kann auf schmerzliche Weise die Vorstellung von Unwirklichkeit und vorgetäuschter Existenz erwecken, all dies kann uns – nicht abstrakt im Verstand, sondern […] konkret – veranschaulichen, bis zu welchem Punkt der Ort, den das Universum einnimmt, leerer als leer ist: All dies geschieht objektiv in meinem losgelösten Geist. Ich weiß nicht warum, aber dieses objektive Geflecht schmaler und breiter Straßen macht mir angst, diese Abfolge von Laternen, Bäumen, von erleuchteten und dunklen Fenstern, offenen und geschlossenen Türen, ungleich nächtlichen Gestalten, noch unklarer in meiner Kurzsichtigkeit, die sie subjektiv bedrohlicher, unbegreiflicher, irrealer erscheinen läßt.
Wortfetzen wehen Neid, Lust, Banalitäten an meinen Gehörsinn. Kaum vernehmbares Flüstern […] dringt in Wellen vor in meine Wahrnehmung.
Nach und nach verliere ich das deutliche Bewußtsein, daß ich zusammen mit all dem existiere, daß ich mich wirklich bewege, hörend, kaum sehend, inmitten von Schatten, die Wesen verkörpern, und Orten, an denen diese Wesen ihrerseits Schatten sind. Allmählich, dunkel, vage wird mir immer unbegreiflicher, wie all dies angesichts der ewigen Zeit und des unendlichen Raumes existieren kann.
In einer passiven Gedankenassoziation beginne ich über jene Menschen nachzudenken, deren Bewußtsein von diesem Raum und dieser Zeit so analytisch und verständnisreich war, daß sie sich in ihm verloren. Es ist geradezu grotesk, daß unter Menschen wie diesen, in Nächten, zweifellos wie dieser, in Städten, gewiß nicht wesentlich anders als die, in der ich nachdenke, die Platons, die Scotus Eriugenas [37] , die Kants und die Hegels all dies vergaßen, anders wurden als all diese Menschen […]. Und dennoch gehörten sie derselben Menschheit an.
Und selbst ich, der ich hier gehe und diese Gedanken denke, wie überdeutlich, grausam fühle ich mich außenstehend, fremd, ungewiß und […]
Ich beende meine einsame Pilgerschaft. Eine weite Stille, ungetrübt von leisen Lauten, überfällt und überwältigt mich. Unermeßliche Müdigkeit der Dinge selbst, der schlichten Tatsache meines Hierseins, des mich in diesem Zustand Befindens […] bedrückt meinen Geist bis in den Körper […]. Fast ertappe ich mich dabei, schreien zu wollen, ich spüre, daß ich in einem Ozean versinke […], von einer Unermeßlichkeit, die weder zu tun hat mit der Unendlichkeit des Raumes noch mit der Ewigkeit der Zeit, noch mit etwas, das bemessen oder benannt werden kann. In solchen Schreckensmomenten tiefster Stille weiß ich nicht,
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