Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
zu Boden brachte. Wie man einen Angreifer auf höchst undamenhafte Weise überrumpelte. Ihre Mutter würde auf der Stelle tot umfallen, wenn sie wüsste, dass Victoria gelernt hatte, mit ihren Armen, Beinen und sogar ihrem Kopf zu attackieren. »Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet, ich möchte Tante Eustacia besuchen.«
Melly sah zu ihr hoch, ihr rundes Gesicht das Pendant zu Victorias schmalerem, eleganterem. »Du hast meine Tante während der letzten Wochen ziemlich ins Herz geschlossen, Liebes. Ich bin sicher, es bereitet der alten Dame viel Freude, dich in
ihrer Gesellschaft zu haben. Ich hoffe nur, dass sie sich nicht vernachlässigt fühlen wird, wenn die Saison beginnt und du jeden Abend auf Bällen tanzt oder ins Theater gehst.«
Auf Bällen tanzen, ins Theater gehen, Vampire jagen.
Victoria würde ohne jeden Zweifel eine außerordentlich beschäftigte Debütantin sein.
Am Abend ihrer Einführung in die Gesellschaft - welche nach ihrem siebzehnten Geburtstag zuerst aufgrund des Todes ihres Großvaters und anschließend dem ihres Vaters um zwei Jahre verschoben worden war - saß Victoria, jeder Zoll eine sittsame junge Dame, vor ihrem Frisiertisch.
Ihr tintenschwarzes Haar, diese Masse wilder Locken, war hoch an ihrem Hinterkopf aufgetürmt und mit unnachgiebiger Härte festgesteckt worden. Es würde nicht wagen, zu verrutschen oder nach unten zu sinken, ganz gleich mit welchem Eifer sie tanzen, knicksen oder sich anderweitig beschäftigen sollte.
Jetperlen und blasse, rosafarbene Perlen waren in ihre Locken geflochten worden, und wann immer sie den Kopf drehte, glänzten und funkelten die schwarzen Steine, während die Perlen im selben hellen Farbton schimmerten wie ihr Kleid. Passende Juwelen schmückten ihre Ohren, und eine rosenfarbene Kette aus Perlen und Quarz wand sich um ihren Hals. Anstelle einer Kameebrosche hatte sie ein kleines, silbernes Kreuz an ihrem Mieder befestigt.
Victorias Robe spielte einen ganz leisen Hauch ins Rosafarbene und fiel in durchscheinenden Plisseefalten von unterhalb der Brust bis zu den Schuhspitzen. Der Rock, unter dem sie zwei weitere durchscheinende, elfenbeinfarbene Stofflagen
trug, war fließend und hauchzart. Das tief ausgeschnittene, rechteckige Dekolleté ließ von ihrem Halsband bis zum Ansatz ihres Busens eine recht große Fläche cremig-weißer Haut unbedeckt. Ihre Handschuhe, die lang und jungfräulich weiß waren, reichten bis weit über ihre Ellbogen, sodass sie beinahe die winzigen Puffärmel berührten.
Tatsächlich wirkte Victoria ganz und gar wie die sittsame, unschuldige Debütantin, die sie ja auch war... wäre da nicht dieser massive Holzpflock in ihrer Hand gewesen.
Er hatte den Umfang von zweien ihrer Finger und beinahe die Länge ihres Unterarms. Ein Ende war glatt geschliffen, das andere messerscharf zugespitzt. Er war zu dick, um ihn in ihrer Frisur zu verbergen, und viel zu lang für die kleine Tasche, die von ihrem Handgelenk baumelte.
»Unter deinem Rock, meine Liebe. Schiebe ihn in das Strumpfband unter deinen Röcken«, wies Tante Eustacia sie ruhig an. Ihr Gesicht war vom Alter gezeichnet, dennoch strahlte es eine Schönheit und Intelligenz aus, als würde jedes erlebte Glück ihrer mehr als achtzig Jahre gleichzeitig darin leuchten. Ihr Haar, das noch immer blau-schwarz war, trug sie zu einer komplizierten Lockenfrisur nach hinten gekämmt, in die Staubperlen, weiße Spitze und Jetperlen eingewoben waren. Es war eine Coiffure, die angemessener gewesen wäre für ein Mädchen in Victorias Alter als für eine alte Dame. Dennoch trug Tante Eustacia sie mit Würde - ebenso wie ihr hochgeschlossenes Kleid aus blutrotem Taft.
»Was denkst du, warum ich dir das Strumpfband gegeben habe? Mach schnell; deine Mutter wird jeden Moment zurückkommen!«
»Unter meine Röcke?«
»Du musst ihn schnell und leicht erreichen können, Victoria. Er ist dort gut verborgen, und mit etwas Übung wirst du lernen, ihn mühelos hervorzuziehen und ihn in der Hand zu halten, wenn du ihn brauchst. Nun beeile dich!« Tante Eustacia wartete gar nicht erst, dass sie sich bewegte; sie zupfte an Victorias Röcken und entblößte den Strumpfhalter aus elfenbeinfarbener Spitze, der knapp unterhalb ihres Knies befestigt war, dann sah sie zu, wie ihre Nichte den Pflock zwischen Spitze und Fleisch gleiten ließ.
Kaum dass sie fertig waren, ging auch schon die Tür auf, und Lady Melisande stürzte herein, gefolgt von ihren beiden zwitschernden Gefährtinnen.
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