Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
oben fasste, um sein Kinn zu berühren, schloss er die Lider.
Nachdem er sie schließlich freigegeben und sich ein Stück zurückgezogen hatte, blickte er in ihre grün-braun gesprenkelten
Augen, die umwölkt und ermattet wirkten, und ihn überkam ein jähes Gefühl der Befriedigung. Sie trug das Eingeständnis, ihm zu gehören, dort in ihrem Gesicht und auf ihren vollen, feuchten Lippen, ganz zu schweigen von dem verblassten Bändchen an ihrem Handgelenk.
Bei Gott, er würde diese Frau heiraten.
Was für eine Befreiung, Hosen zu tragen!
Victoria hatte das Alter von zwanzig erreicht, ohne je die Erfahrung gemacht zu haben, wie es war, sich völlig frei bewegen zu können, keine Angst mehr zu haben, über die eigenen Röcke zu stolpern, oder die unteren Gliedmaßen auf diese höchst unanständige Weise umhüllt und definiert zu wissen.
Sie fühlte sich unglaublich verwegen und mächtig, als sie in Barths Droschke stieg, ohne dass ihr dabei jemand oder etwas anderes half als ein Stock, der wie ein robuster Spazierstock wirkte, dessen unteres Ende jedoch zu einer messerscharfen Spitze geschärft war. Verbena, die aussah wie ein mondgesichtiger, glubsch äugiger Junge, folgte hinterdrein, mit der einen Hand einen dicken Pflock umklammernd und in der anderen ein großes, silbernes Kruzifix. Da ihre Hände damit außer Gefecht gesetzt waren, gestaltete sich ihr Einsteigen als eine ganze Folge hektischer, nutzloser Bewegungen, bis Barth schließlich der Geduldsfaden riss und er sie einfach hineinschubste.
Nachdem sie auf den Sitz gegenüber von Victoria gekrabbelt war, versuchte sie, ihre Mütze zurechtzurücken, wobei sie noch immer den Pflock und das Kreuz festhielt. Ein pfirsichfarbener Zopf lugte darunter hervor, was nicht gerade dazu beitrug, ihre Verkleidung glaubwürdig zu machen.
»Warum fürchten die sich vor Silber?«, fragte sie, als die Droschke sich mit einem Ruck in Bewegung setzte.
»Weil Judas Ischariot Jesus für dreißig Silberlinge verriet«, erklärte Victoria. Sie verspürte zwar keine Nervosität, aber all ihre Sinne waren in Alarmbereitschaft. Tante Eustacia hatte sie nichts von ihrem Plan erzählt, St. Giles heute Nacht einen Besuch abzustatten, aus Angst, dass sie es ihr entweder verbieten oder, schlimmer noch, ihr Max mitschicken würde.
»Und Knoblauch?«
»Das weiß ich nicht, aber ich vermute, es liegt an seinem Geruch. Der Geruchssinn eines Vampirs ist wesentlich schärfer als der eines Sterblichen. Vielleicht empfinden sie ihn in ihrem untoten Zustand als unangenehm.«
»Würden Sie einen erkennen können? Wenn wir dort sind … werden Sie wissen, ob sich da einer rumtreibt, bevor er versucht, uns zu beißen?«
»Ich spüre es immer, wenn ein Vampir in der Nähe ist.« Victoria begriff, dass ihre Zofe sie mit Fragen bombardierte, um ihre Nerven zu beruhigen. »Meistens erkenne ich, wer es ist, und ich werde immer besser darin. Mach dir keine Sorgen, Verbena. Ich glaube nicht, dass sie ohne Provokation angreifen werden, vor allem, da wir ihnen an einem öffentlichen Ort begegnen.«
Nach einer kurzen, hitzigen Debatte mit Barth hatte Victoria ihn dazu überreden können, sie nicht nur nach St. Giles zu bringen, der schlimmsten und gefährlichsten Gegend Londons, sondern darüber hinaus an einen Ort, wo er Vampire in einem geselligen anstelle eines räuberischen Umfelds angetroffen hatte. Da Barth Vampire viele Male gesehen und sogar befördert hatte,
ohne angegriffen worden zu sein, musste er folglich wissen, wo sie zusammenkamen.
Nur aufgrund der Tatsache, dass Victoria ein Venator war, hatte Barth zugestimmt, sie zum Silberkelch zu fahren.
»Wenn’s einer versteht, auf sich aufzupassen, dann isses’n Venator«, sagte er, sich in sein Schicksal fügend.
Sobald die Droschke unsanft zum Stehen kam (wäre Barth nicht Verbenas Cousin gewesen, für dessen Vertrauenswürdigkeit ihre Zofe sich verbürgt hatte, hätte Victoria einen Kutscher mit mehr Feingefühl angeheuert), öffnete sie die Tür.
Obwohl es schon nach Mitternacht war, herrschte auf der Straße so reges Treiben wie in der Drury Lane nach einer Theatervorstellung. Die Gerüche waren jedoch viel schlimmer, und Victoria wunderte sich, wie die Vampire sie ertragen konnten. Ihr Nacken war schon seit einiger Zeit immer kühler geworden, aber sobald sie den Schlag geöffnet hatte, wurde er so kalt, als würden eisige Nadeln auf ihn einstechen. Als würde das helfen, schlug sie den Kragen ihrer Männerjacke hoch, dann
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