Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
denn wenngleich sie nicht die Flucht ergriffen, zogen sie sich zumindest in die dunkelsten Schatten des gedrungenen Gebäudes zurück, das neben der ausgebrannten Ruine über dem Silberkelch kauerte.
Victoria steckte die Pistole in die tiefe Tasche ihres Mantels, nahm ihren Spazierstock und begann, auf die Doppeltür zuzugehen, von der sie hoffte, dass sie zum Silberkelch führte.
Die Türen waren geschlossen, aber als sie und Verbena jeweils an einer zogen, ließen sie sich mühelos öffnen und gaben den Blick auf eine steile Treppe frei, die hinunter in die Erde führte. Am Fuß flackerte zum Glück ein schwacher Lichtschein, doch reichte er bestimmt nicht aus, ihnen sicher den Weg zu leuchten.
Aber Vampire verfügten über eine ausgezeichnete Nachtsicht, deshalb war es für sie vermutlich nicht schwer, eine Treppe hinabzusteigen, die so dunkel und gerade war, dass man keine zwei Stufen weit sehen konnte. Victorias Nacken war schmerzhaft kalt, und das Frösteln erfasste zunehmend auch ihren Hinterkopf. Sie nahm unwillkürlich die Hand zurück, um ihn zu berühren und sich den Nacken zu reiben, in der vergeblichen
Hoffnung, die Kälte zu vertreiben. Mit einem letzten Blick zu Verbena machte sie sich, ein weiteres Mal froh darüber, keine langen Röcke zu tragen, an den Abstieg.
Während sie die zwanzig Stufen hinunterging, wurden die Geräusche von unten lauter und ausgeprägter. Stimmen, die sprachen, lachten, brüllten... das Klirren von Metallkrügen, die gegeneinander stießen... das Poltern und Klatschen von Händen, die auf Tische und gegen Wände schlugen... und eine wehmütige Musik, die von einem perfekt gestimmten Klavier kam.
Unten angekommen, musste Victoria nur noch um eine Ecke biegen, dann stand sie im Silberkelch.
Auch wenn ihre Erfahrung mit Schenken und Wirtshäusern nicht sehr groß war - sie hatte während ihrer Reisen zweimal in einem zu Abend gegessen -, schien sich dieses Lokal nicht sonderlich von denen zu unterscheiden, die sie in der Welt der Sterblichen gesehen hatte.
Tische drängten sich in dem von Steinmauern umgebenen Raum, der dadurch, dass er unter der Erde lag, fühlbar Feuchtigkeit verströmte. Laternen hingen an Seilen und Ketten von der Holzdecke, und der Fußboden bestand aus festgetretenem Lehm. An einer Seite zur Linken, jenseits der Ecke neben der Treppe, befand sich eine weitere Türöffnung, die vermutlich in einen zweiten Raum führte; obwohl es möglicherweise auch ein weiterer Eingang war. Neben dieser Tür erstreckte sich eine lange Bar, hinter der zwei Frauen geschäftig hin und her eilten, Krüge füllten und auf den Tresen knallten.
Nein, wäre da nicht dieses eisige Frösteln in ihrem Nacken gewesen, Victoria hätte geglaubt, sich in einem Gasthaus für
Reisende zu befinden, das einfach ein wenig dunkler und feuchter war als üblich.
Niemand schien sie und Verbena bisher bemerkt zu haben, wofür sie dankbar war. Um zunächst einmal ein Gefühl für das Lokal und seine Gäste zu bekommen, hoffte sie, noch ein wenig länger inkognito bleiben zu können. Sie ließ den Blick über den Schankraum wandern, um zu bestimmen, welche Gäste Vampire waren und welche nicht. Zu ihrer Überraschung war ein guter Teil der Anwesenden, sie schätzte etwa die Hälfte, keine blutdürstigen Untoten. Das war ein tröstlicher Gedanke, nachdem sie sich schon gefragt hatte, was man in dieser Art von Etablissement wohl zu trinken anbieten würde. Auch wenn sie in ihrem Leben schon mehr als einen Schluck Brandy genossen hatte - hauptsächlich in der Zeit nach der Beerdigung ihres Vaters -, verspürte sie nicht das geringste Bedürfnis, irgendetwas zu sich zu nehmen, das Vampire trinken könnten.
Schließlich entdeckte sie einen kleinen Tisch, der nicht weit vom Klavier entfernt in einer Ecke stand. Victoria ergriff Verbenas kalte Finger und zog sie hinter sich her, während sie sich ihren Weg dorthin bahnte. Als sie am Klavier vorbeikamen, fiel ihr Blick auf die Pianistin, die nicht zu spielen aufgehört hatte, seit sie eingetreten waren: Es war eine Vampirin mit einer langen Mähne silbrigen Haars und einem unglücklichen Gesicht, die sich abwechselnd über die Tasten beugte oder den Kopf in den Nacken legte, als würde sie sich vollkommen in der Musik verlieren. Das Lied war traurig und sehnsuchtsvoll und auf quälende Weise wunderschön.
Als sie sich hinsetzten, wählte Victoria einen Stuhl, von dem aus sie den gesamten Raum überblicken konnte. Es war fast
schon enttäuschend,
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