Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
sorgfältig der vis bulla auswich. Dann fuhr ihre Hand wieder nach oben in die vollen Strähnen, die seinen Nacken streiften.
Er verharrte regungslos, stoisch, war aber nicht bereit, Victoria in die Augen zu sehen. Trotzdem sah sie, wie der Puls an seinem Hals pochte, die Anspannung in seinen Armen und die zusammengepressten Lippen. Sie spürte seinen Abscheu und sein Entsetzen, aber trotzdem zeigte er keine R eaktion.
In dem Moment begriff sie, dass das, was sie vor drei Monaten mit Beauregard erlebt hatte, was er ihr angetan hatte – und was von ihr hingenommen worden war – während er versuchte, sie zu einem Vampir zu machen, nichts war im Vergleich zu dem, was Max durch die Vampirkönigin hatte erleiden müssen. Ihr Magen verkrampfte sich allein bei dem Gedanken an all das Widerwärtige.
»Ich hatte nicht angenommen, dass Sie bereit sind zu teilen«, erwiderte Victoria, die jetzt eine andere Strategie versuchte und sich dabei auf ihre Atmung konzentrierte. Sie bemühte sich, ganz gleichmäßig, langsam und leicht zu atmen. Sie bemühte sich, den Geruch nach Blut zu ignorieren.
»Bei einem Venator, der sich gerade in einen Untoten verwandelt, mache ich vielleicht eine Ausnahme«, gestand Lilith. »Sie sind ganz dicht davor, Victoria Gardella. Spüren Sie nicht, wie es in Ihnen brennt? Das Verlangen? Ich sehe es in Ihren Augen.«
»Sie sehen gar nichts«, erwiderte Victoria und fragte sich dabei, wie viel Zeit verstrichen war. Sebastian und die anderen sollten mittlerweile eigentlich den Zugang zum Geheimgang hinter dem Thron gefunden haben … möglicherweise waren sie schon ganz nah. Sie musste einfach noch mehr Zeit totschlagen. »Sie sehen nur, was Sie sehen wollen.«
»In der Tat.« Lilith saß sehr gerade auf ihrem Thron. »Dann wollen wir dem mal auf den Grund gehen.« Abrupt stand sie auf. Ihr langes, smaragdgrünes Kleid, das vom Stil her eher Wayrens Kleidern entsprach denn dem Geschmack ihrer Komplizin Sara, raschelte um ihre Beine.
Die Vampirkönigin deutete eine kaum merkliche Geste mit ihrem Kopf an, doch Victoria war vorbereitet. Sie wirbelte herum, als zwei Untote hinter ihr auftauchten. Mit dem Pflock in der Hand stieß sie die Hände weg, die nach ihr griffen. Dabei packte sie den einen und stieß ihn gegen den anderen. Und dann pfählte sie schnell einen von ihnen, ehe sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatten. Der plötzliche Ascheregen ließ den anderen Vampir entsetzt nach hinten taumeln. Sofort stürzte Victoria sich auf ihn, warf ihn zu Boden und stieß mit ihrem Pflock zu.
Sie stand inmitten einer Wolke aus Asche, als sie Lilith ansah. »Halten Sie Ihre Schläger von mir fern.«
Die hochgewachsene Untote blickte sie mit flammenden roten Augen an. Vom Blau war nur noch ein hauchdünner Kreis zu erkennen. »Das war unsagbar unhöflich, Victoria Gardella. Aber machen Sie sich keine Sorgen … ich werde Ihnen keine weitere Gelegenheit geben, sich danebenzubenehmen. Kommen Sie jetzt mit, sonst werde ich meinen Ärger an jemand anders auslassen.«
Max kam hoch, als hätte man wie bei einer Marionette an irgendwelchen Fäden gezogen. Victoria war Liliths Andeutung nicht entgangen. Sie beobachtete, wie er sich immer noch voll geschmeidiger Anmut bewegte, aber sein innerer Widerstand machte jeden Schritt zur Qual. Die Vampirkönigin war groß, fast so groß wie er, und sie umfasste sein Handgelenk mit ihren knochigen Fingern.
Sara ging auf Victoria zu, und sie sah, dass die blonde Frau immer noch die Pistole in der Hand hatte, mit der sie vor ein paar Stunden ihre Flucht verhindert hatte. Mit dem Lauf drängte sie Victoria zur Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers.
Victoria war noch nie in diesem Raum gewesen. Ja, sie hatte die beiden Male, die sie schon im Thronraum gewesen war, noch nicht einmal den Durchgang bemerkt. Der Blutgeruch war hier stärker, und im Gegensatz zum anderen Raum wurde dieser von zwei offenen Kaminen – an jedem Ende einer – und Fackeln, die in Wandhalterungen steckten, erhellt. Die Flammen warfen schwarze Schatten an die Steinwände, sodass sie in alle Richtungen zu wogen schienen. In diesem Zimmer war es viel wärmer als im anderen, ja, fast schon erstickend warm.
Oder vielleicht wirkte es auch nur so durch den schweren Blutgeruch, die tanzenden Schatten und das warme Licht.
Der Raum war mit einem langen, niedrigen Diwan voller Kissen, Tischen und Stühlen eingerichtet … in der Mitte ein dunkler Schatten auf dem Boden. Auf der anderen
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