Das Buch der verlorenen Dinge
schluckte hart. Er hatte sich immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht, aber nicht auf diese Art. Wenn, dann mit seiner Mama und seinem Papa. So war es nicht richtig. So würde es nie wirklich sein Bruder oder seine Schwester sein. Weil es aus Rose herauskam. Es würde nicht dasselbe sein.
Sein Vater legte ihm den Arm um die Schulter. »Na, hast du denn gar nichts dazu zu sagen?«, fragte er.
»Ich möchte jetzt nach Hause«, sagte er.
Sein Vater ließ den Arm noch einen Moment auf Davids Schulter, dann nahm er ihn weg. Er schien ein wenig in sich zusammenzufallen, als hätte jemand Luft aus ihm herausgelassen.
»Gut«, sagte er traurig. »Dann lass uns nach Hause gehen.«
Sechs Monate später brachte Rose einen kleinen Jungen zur Welt, und David und sein Vater verließen das Haus, in dem David aufgewachsen war, und zogen zu Rose und Georgie, Davids neuem Halbbruder. Rose lebte in einem riesigen alten Haus nordwestlich von London, drei Stockwerke hoch, mit einem großen Garten vor und hinter dem Haus und Wald drumherum. Laut Davids Vater gehörte das Haus schon seit Generationen ihrer Familie, und es war mindestens dreimal so groß wie ihr eigenes. Anfangs hatte David nicht umziehen wollen, aber sein Vater hatte ihm sanft die Gründe dafür erklärt. Roses Haus lag näher bei seinem neuen Arbeitsplatz, und wegen des Krieges würde er sehr viel Zeit dort verbringen müssen. Wenn sie in der Nähe wohnten, würde er David öfter sehen können, und vielleicht würde er sogar manchmal zum Mittagessen da sein. Sein Vater sagte ihm auch, dass das Leben in der Stadt gefährlicher werden würde, und hier draußen wären sie alle ein wenig mehr in Sicherheit. Die deutschen Flugzeuge würden kommen, und auch wenn Davids Vater überzeugt war, dass Hitler sich am Ende geschlagen geben musste, würde es erst einmal viel schlimmer werden, bevor es besser wurde.
David wusste nicht so genau, womit sein Vater jetzt sein Geld verdiente. Er wusste, dass sein Papa gut in Mathematik war und dass er bis vor kurzem Lehrer an einer großen Universität gewesen war. Dann hatte er die Universität verlassen und angefangen, für die Regierung zu arbeiten, in einem alten Landhaus außerhalb der Stadt. Nicht weit davon war eine Kaserne, und das Tor und das Grundstück um das Haus waren von Soldaten bewacht. Wenn David seinen Vater fragte, was er bei der Arbeit machte, sagte er nur, dass er Zahlen für die Regierung überprüfte. Doch an dem Tag, als sie schließlich aus ihrem Haus in das von Rose umzogen, meinte sein Vater wohl, dass David eine etwas genauere Antwort verdient hatte.
»Ich weiß, dass du Geschichten und Bücher magst«, sagte sein Vater, als sie dem Umzugswagen aus der Stadt folgten. »Wahrscheinlich hast du dich schon gefragt, warum ich sie nicht so sehr mag wie du. Nun, in gewisser Weise mag ich Geschichten, und das ist auch ein Teil meiner Arbeit. Kennst du das, wenn man glaubt, in einer Geschichte geht es um etwas Bestimmtes, und in Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes? Wenn sie eine verborgene Bedeutung hat, die man erst herausfinden muss?«
»Wie die Geschichten in der Bibel«, sagte David. Sonntags in der Kirche erklärte der Pfarrer oft die Geschichte, die er gerade vorgelesen hatte. David hörte nicht immer richtig zu, weil der Pfarrer schrecklich langweilig war, aber es war erstaunlich, was der Pfarrer alles in den Geschichten entdeckte, die David ganz simpel erschienen. Genau genommen hatte er den Eindruck, der Pfarrer machte sie komplizierter, als sie waren, wahrscheinlich weil er dann länger reden konnte. David mochte die Kirche nicht. Er war immer noch böse auf Gott, wegen dem, was mit seiner Mutter passiert war, und weil er Rose und Georgie in sein Leben gebracht hatte.
»Aber manche Geschichten sind gar nicht dazu gedacht, dass jeder sie versteht«, fuhr sein Vater fort. »Sie sind nur für eine Handvoll Leute bestimmt, und deshalb ist ihre wahre Bedeutung sorgsam versteckt. Das kann man mit Worten machen oder mit Zahlen, manchmal auch mit beidem, aber das Ziel ist dasselbe. Man sorgt dafür, dass alle anderen, die die Geschichte sehen, nichts damit anfangen können. Solange man den Code nicht kennt, hat sie keine Bedeutung.
Nun, die Deutschen benutzen Codes, wenn sie Nachrichten versenden. Genau wie wir. Manche von diesen Codes sind sehr kompliziert, und manche scheinen ganz einfach zu sein, aber oft sind gerade die am allerschwierigsten. Jemand muss versuchen, hinter ihr Geheimnis zu
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