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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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kommen, und das ist meine Aufgabe. Ich versuche, die verborgene Bedeutung von Geschichten herauszufinden, die von Leuten geschrieben wurden, die nicht wollen, dass ich sie herausfinde.«
    Er wandte sich zu David und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Aber das muss unter uns bleiben«, sagte er. »Du darfst niemandem verraten, was ich tue.«
    Er hob den Zeigefinger an die Lippen. »Streng geheim, verstehst du?«
    David ahmte die Geste nach.
    »Streng geheim«, wiederholte er. Und dann fuhren sie weiter.
     
     
    Davids Zimmer lag im obersten Stock, in einem kleinen, niedrigen Raum, den Rose für ihn ausgesucht hatte, weil er voller Regale mit Büchern war. Davids Bücher mussten sich die Regale mit anderen Büchern teilen, die älter und fremdartiger waren als sie. Er bemühte sich, so gut es ging, Platz für sie zu schaffen, und entschied sich schließlich, die Bücher nach Größe und Farbe in die Regale einzuordnen, weil es so besser aussah. Das führte allerdings dazu, dass seine Bücher sich mit den bereits vorhandenen mischten, sodass zum Beispiel ein Märchenbuch zwischen einer Geschichte des Kommunismus und einer Analyse der letzten Schlachten des Ersten Weltkriegs landete. David hatte versucht, ein wenig in dem Buch über Kommunismus zu lesen, vor allem deshalb, weil er nicht so genau wusste, was Kommunismus war (abgesehen davon, dass sein Vater es offenbar für etwas sehr Schlimmes hielt). Er schaffte ungefähr die ersten drei Seiten, dann gab er auf, weil er bei dem Gerede über die »Inbesitznahme der Produktionsmittel durch die Arbeiter« und die »Raubgier der Kapitalisten« beinahe einschlief. Das Buch über den Ersten Weltkrieg war ein bisschen besser, wenn auch nur wegen der vielen Zeichnungen von alten Panzern, die jemand aus einer Illustrierten ausgeschnitten und zwischen die Seiten gelegt hatte. Dann gab es noch ein langweiliges Lehrbuch mit französischen Vokabeln und ein Buch über das Römische Reich, in dem ein paar sehr interessante Zeichnungen waren und das ziemlich ausführlich die grausigen Dinge beschrieb, die die Römer den anderen Völkern angetan hatten und die anderen Völker den Römern.
    Davids Buch über die griechischen Sagen wiederum hatte die gleiche Größe und Farbe wie eine Sammlung mit Gedichten, die daneben stand, und manchmal zog er versehentlich die Gedichte heraus anstelle der Sagen. Einige davon waren gar nicht so übel, wie er bei näherem Hinsehen feststellte. In einem ging es um eine Art Ritter – obwohl er in dem Gedicht »Junker« genannt wurde – und seine Suche nach einem dunklen Turm und dem Geheimnis, das darin verborgen war. Aber irgendwie hatte das Gedicht kein richtiges Ende. Der Ritter kam zu dem Turm, und dann war Schluss. David hätte gerne gewusst, was nun in dem Turm war und was mit dem Ritter passierte, nachdem er ihn erreicht hatte, aber der Dichter fand es offenbar nicht besonders wichtig. David fragte sich, was das wohl für Leute waren, die Gedichte schrieben. Das Gedicht wurde doch überhaupt erst richtig spannend, als der Ritter zu dem Turm gelangte, aber an dem Punkt hatte der Dichter die Lust verloren und mit etwas Neuem angefangen. Vielleicht hatte er auch vorgehabt, es irgendwann fertig zu schreiben, und es dann einfach vergessen, oder ihm war kein Ungeheuer für den Turm eingefallen, das eindrucksvoll genug war. David sah den Dichter vor sich, umgeben von lauter Zetteln mit Ideen, die durchgestrichen oder überschrieben waren.
     
    Werwolf.
    Drache.
    Riesengroßer Drache.
    Hexe.
    Riesengroße Hexe.
    Kleine Hexe.
    David versuchte, dem Ungeheuer, das in dem Gedicht lauerte, eine Form zu geben, doch es wollte ihm nicht gelingen. Es war schwieriger, als er gedacht hatte, weil nichts wirklich zu passen schien. Er brachte nur ein verschwommenes Wesen zustande, das in den spinnwebverhangenen Ecken seiner Fantasie kauerte, wo all die Dinge, vor denen er sich fürchtete, im Dunkeln umeinander krochen.
    Sobald David anfing, die Lücken in den Regalen zu füllen, spürte er, wie sich etwas in dem Zimmer veränderte. Die neueren Bücher schienen sich zwischen den anderen Werken aus der Vergangenheit nicht wohlzufühlen. Die Alten wirkten einschüchternd, und sie sprachen mit staubigen, grollenden Stimmen zu David. Sie waren in Leder gebunden, und einige von ihnen enthielten Wissen, das längst vergessen oder aber durch den Fortschritt der Wissenschaft und neue Entdeckungen überholt war. Die Bücher mit diesem alten Wissen hatten sich nie mit dem

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