Das Buch der Zeit Band 2: Die Sieben Münzen
hergerissen. Als sie dann weiter schweigend vor sich hin brütete, tat er so, als machte er sich wieder an die Arbeit. Die Wörter tanzten jedoch vor seinen Augen, und er war unfähig, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu lesen. Sein Herz hämmerte so heftig, dass er die Arme vor der Brust verschränken musste, damit es nicht einfach heraushüpfte. Doch was machte das schon, zwischen ihr und ihm lagen knapp zwei Meter!
Nach ungefähr einer halben Stunde beschloss sie endlich doch, den Mund aufzumachen. »Mama behauptet, Allan sei verschwunden, stimmt das ?«
Ihr Ton war nicht unbedingt freundschaftlich.
»Ja, wir haben seit zwei Wochen nichts mehr von ihm gehört. Aber keine Angst, ich kann dir versprechen, dass ich höchstens ein oder zwei Tage hierbleibe, bis . . .«
»Darum geht es doch gar nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich habe mich mit Jerry gestritten.«
»Oh . . . das . . . das tut mir leid.«
»Es bringt nichts, wenn du dich dauernd entschuldigst, Sam! Wir haben uns deinetwegen gestritten. Jerry hat angedeutet, dass er mit Monk reden will und sie dich beide in die Mangel nehmen werden, wenn du noch einmal versuchst, mich zu treffen.«
Paxton und Monk, wie die Urgroßväter, so die Urenkel!
»Seit ich sie neulich beim Wettkampf besiegt habe, haben es die beiden sowieso auf mich abgesehen.«
»Hier geht es aber nicht um Judo«, brauste Alicia auf, »sondern um mich! Ich musste ihm immer wieder versichern, dass zwischen uns nichts ist, und bin irgendwann richtig sauer geworden.«
»Das war auch richtig so. Wenn er kein Vertrauen zu dir hat, heißt das, er hat dich nicht verdient.«
»Keine Ahnung, ob er mich verdient hat oder nicht, aber es geht ja auch um dich. Wenn er dich irgendwo erwischt . . .«
»Glaub mir, vor Jerry habe ich überhaupt keine Angst«, versicherte Sam mit Nachdruck. »Weder auf der Matte noch woanders . . . Allerdings, wenn er dir irgendwann wehtun sollte, bekommt er es mit mir zu tun.«
Das war ihm ohne weiteres Überlegen einfach so rausgerutscht. Aber es war die Wahrheit. Alicia schien diese Bemühung um Offenheit jedenfalls etwas milder zu stimmen. Sie sprang vom Bett auf und warf einen Blick auf seine Bücher auf dem Schreibtisch.
»Du arbeitest? Hast du denn keine Ferien?«
»Ich ... doch, aber ich habe mit dem Geschichtslehrer eine Abmachung getroffen. Meine Noten waren dieses Jahr nicht besonders toll, deshalb hat er mir ein zusätzliches Referat übers Mittelalter aufgebrummt. Ich habe Vlad Tepes als Thema gewählt. . . oder Dracula, wenn du willst.«
»Du musst ein Referat über Dracula schreiben? Ein bisschen merkwürdig, euer Geschichtslehrer, oder?«
Aus dem Erdgeschoss erklang Helenas Stimme und ersparte Sam eine Antwort:
»Kinder! Essen kommen!«
Den Rest des Abends hatten sie zusammen Musik gehört und alte Erinnerungen ausgetauscht. Alicia hielt sich die ganze Zeit in der Defensive und ließ keine Gelegenheit aus, Jerrys zahllose Qualitäten zu erwähnen – abgesehen von seiner krankhaften Eifersucht natürlich. Doch alles in allem war Samuel schon lange nicht mehr so glücklich gewesen, seit – ja, seit wann überhaupt?
Am nächsten Morgen, während Alicia noch schlief, machte er sich daran, seinen Horizont, was Draculas Abenteuer anging, noch ein wenig zu erweitern. Wie die meisten dieser blutrünstigen Tyrannen hatte auch dieser kein besonders schönes Ende gefunden. Nach sechs Jahren Gewaltherrschaft wurde er von den Truppen des Sultans gejagt und gefangen genommen. Was ihn, wie es schien, jedoch nicht daran hinderte, seine Gräueltaten fortzusetzen – nur dass er statt Menschen jetzt Mäuse auf Holzstücke spießte . .. Wenn das tatsächlich stimmte, wies dies auf eine beunruhigende Obsession hin. Anschließend verbrachte er lange Zeit im Exil, und als er nach einigen hinterhältigen Intrigen den Moment gekommen sah, die Walachei zurückzuerobern, stürzte sich einer seiner Männer aus dem Hinterhalt auf ihn und schlug ihm den Kopf ab. Sonderbarerweise sahen seine früheren Untertanen wenig Anlass, ihn zu beweinen.
Allerdings war die Geschichte an diesem Punkt nicht zu Ende. Noch lange Zeit nach seinem Tod erfuhr die düstere Legende von Vlad Tepes immer gruseligere Erweiterungen, bis seine Person mit einer der gefürchtetsten Gestalten des lokalen Aberglaubens in Verbindung gebracht wurde: dem Vampir, der seinen Opfern das Blut aussaugt. Vlad bekam daraufhin den Beinamen Dracula, was so viel wie Sohn des Teufels bedeutete, gleichzeitig
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