Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
Ladengeschäfte und vor allem die vielen Menschen sie verunsicherten. Inzwischen hatte sie sich gewöhnt an Studenten, die in fremden Sprachen miteinander plauderten. An fremdländisch aussehende Gelehrte, an Amtleute und Wachen, und auch die Ordnung der Gassen begriff sie. Von der schnurgerade von Ost nach West verlaufenden Hauptstraße gingen einerseits zum Neckar, andererseits zum Berg hin nach Art der Fischgräten die Gassen ab. Sie kannte die Gerüche nach Sand, Wasser, Pferd und Holz am Ufergelände der Froschau, wo sie im Sommer unterhalb der Neckarschule mit ihrer Tochter gesessen und zugesehen hatte, wie an der Pferdeschwemme die Pferde getränkt und die Floße draußen auf dem Wasser flussaufwärts getreidelt wurden. Sie war vertraut mit allem, es gab keinen Grund, sich zu fürchten. Sie atmete durch und ging weiter. Philipp würde heute Abend etwas später kommen, da wegen der bevorstehenden Reise des Kurfürsten in die Oberpfalz viel zu tun war und die Kanzleiverwandten selbst auch länger blieben. Sie hatte also Zeit, Juli frisch zu wickeln und zu stillen und sich ein wenig hübsch zu machen. Ob sie die neuen Stiefel anziehen sollte? Vorfreude ließ sie schmunzeln, als sie sich vorstellte, wie sie die Stiefel überzog. Sie hatten ausgemacht, dass Philipp sie abholte. Sie würden Juli in der Obhut Wittib Ringelers, ihrer Vermieterin, lassen und zusammen mit Kilian, der zu ihrer Wohnung kommen sollte, ins „Schwert“ zum Umtrunk gehen. Kilian wohnte nicht weit von ihnen, draußen in der Jakober Vorstadt, einen Steinwurf weit weg, wenngleich durch die östliche Stadtmauer getrennt. Dabei fiel ihr ein, dass Kilian Philipp gebeten hatte, Hedwig zu sagen, sie solle doch Appel am heutigen Abend mitbringen. Die Augenbrauen hatte sie hochgezogen, Philipp hatte geschmunzelt, sie in die Arme genommen, und lachend wie ein Verschwörerpaar hatten sie den armen Kilian bedauert. Er würde es schwer haben unter all den Verehrern Appels.
Juli an ihrem Busen bewegte sich und gab einen kleinen schmatzenden Laut von sich. Hedwig hielt inne und schaute auf sie nieder. „Sind gleich daheim“, flüsterte sie.
Jemand mit einer Laterne erschien in einigen Schritt Entfernung vor ihr aus der Schneeflockennacht. Ihr Herz schlug schneller, wachsam sah sie der Gestalt entgegen, erkannte sie zuerst an der gebückten Haltung, dann an der Stimme, als sie einen Guten Abend wünschte. Es war Margret, die alte Tapeziererin, die mit ihren vier Kindern vorm Obertor wohnte. Hedwig war erleichtert. Sie blieb stehen. Nur Nachbarn aus dem Viertel, dachte sie. Kein Grund zur Besorgnis. „Wohin noch, Wittib Margret?“
Die Witwe bog den Kopf nach hinten und sah sie unter der Kapuze hervor an. Ein Brot wolle sie noch holen, vorne, beim Bäcker an der Kirche. Alsdann beklagte sie den früh einsetzenden Schneefall und was man da an Brennholz brauchen würde. Hedwig stimmte ihr zu und fragte anschließend: „Werdet Ihr übermorgen den Einzug dieses erstaunlichen Tieres anschauen, das man dem Kurfürsten zum Geschenk machte? Man sagt, es kommt mit einem Tataren, der einen Turban statt eines Baretts auf dem Kopf trägt!“
„Ich lass mir doch die Wecken nicht entgehen, die der Kurfürst deshalb verteilen lässt!“, schmunzelte Margret.
Hedwig lachte auch, rief einen Abschiedsgruß und ging weiter. Langsam, um auf dem schiefen Pflaster der Gasse nicht im feuchten Schnee auszurutschen.
Dann ging alles sehr schnell. Unversehens stürmte eine dunkle Gestalt aus der Ecke beim Handschuhsheimer Hof. Bevor Hedwig begriff, was geschah, wurde sie festgehalten, etwas Feuchtwarmes presste sich auf ihr Gesicht, sie bekam keine Luft mehr. Sie wollte schlucken, konnte es nicht, sie merkte, wie ihr das Bündel und die Stiefel aus der Hand fielen. Sie wollte Juli an sich drücken. Jemand umschlang sie, sie konnte den Arm nicht bewegen, verlor den Sinn, das Gleichgewicht und fiel in finsterste Schwärze.
Vier
Alle Kanzleiknechte dienten
allen
Behörden, die in der Landkanzlei unterhalb des Schlossbergs ihren Sitz hatten.
Heute Abend gab es nur
einen
, der allen diente.
Und der heißt Philipp Eichhorn, dachte Philipp grimmig. Der Rest hatte sich versteckt wie Schaben, die in Holzritzen huschen. Nickel, dieser Scheißhaufen, ließ ihn den Rundgang durch die drei Hauptgeschosse der Kanzlei allein machen. Eigentlich ein Unding, er sollte dies wirklich Vizekanzler Culmann melden. Was, wenn er auf einen Eindringling stieße? Gut, das war noch nie vorgekommen,
Weitere Kostenlose Bücher