Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
gekommen war, weil seine Zähne hart aufeinanderschlugen. Er hatte im Schnee gelegen, sein Schädel hatte gebrummt, ihm war übel gewesen. Er hatte nicht gewusst, wo er war. Um ihn her Dunkelheit und Kälte, auf seinem Mantel eine weiße Schneedecke. Die Erinnerung war gekommen, als er benommen auf eine tönerne Flasche starrte, die neben ihm im Schnee stand. Diesen Augenblick des jähen Begreifens, das ihn durchfahren hatte wie ein zischender Pfeil, würde er niemals in seinem Leben wieder vergessen können. Er hatte die Tücke begriffen, die hinter des Finsterlings Handeln steckte: Sollte man ihn finden, würde die Flasche hinlänglich Zeugnis davon ablegen, dass er am Martinsabend einen über den Durst getrunken und es nicht mehr nach Hause geschafft hatte.
Aufgerappelt hatte er sich. Hatte die Flasche im hohen Bogen von sich geworfen. War heimgeschlichen, im Mund einen bitteren Geschmack, im Schädel ein infernalisches Hämmern. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein als das, was er durchlitt, auch wenn dies ein gotteslästerlicher Gedanke sein mochte.
Nachdenken. Konnte, sollte er sich jemandem anvertrauen? Er lachte trocken auf, als ihm einfiel, dass die Kanzleiordnung gebot, dass die Kanzleiverwandten untereinander
„kein Gebolder oder ungeschicktes Wort gebrauchen“
und sich vor allem gegenseitig mit Rat und Tat helfen sollten. Wer konnte ihm helfen? Nickel gewiss nicht. Der umsichtige, ältere Kanzleiknecht Conradt Hofman? Der Vizekanzler? Doch was sollten sie tun? Wo Hedwig und Juli suchen? Vielleicht waren sie bereits … Nein! Das durfte er nicht denken! Er verscheuchte diese Angst. Nein, niemand konnte ihm helfen. Er musste warten. Morgen Mittag würde er das Buch erhalten und es zurückbringen in die Kanzlei. Danach würde er Hedwig und Juli zurückbekommen.
Das Morgengeläut der Franziskanerkirche ließ ihn hochschrecken, ein Röcheln kam aus seiner Kehle. Er war tatsächlich eingeschlafen!
Das Talglicht war ausgegangen. Durch das Hinterfenster schimmerte das Leuchten schneebedeckter Dächer im Novemberdunkel.
Die Knie knackten, als er sich reckte. Harndruck. Sein Nacken schmerzte, er langte hin, spürte die Beule am Hinterkopf. Sein Mund war trocken, er schluckte mehrmals, ein Kratzen im Hals. Er befühlte die geschwollene Wange und sog die Luft ein. Sie verfärbte sich wohl schon. Er stand vom Stuhl auf. Sämtliche Gliedmaßen taten weh. Außer die Zehen, die spürte er in den nassen Stiefeln schon gar nicht mehr. Er bewegte sie. Eine Qual. Er ächzte. Humpelte die zwei Schritte zum Geschirrschrank, nahm den Krug Wasser, trank in großen Schlucken. Eiskalt rann die Flüssigkeit seine Kehle hinab.
Die Glocken läuteten, im Erdgeschoss schlug die Tür, dass das kleine Haus zitterte. Schneegedämpftes Pferdegetrappel. Männerstimmen von fern. Heidelberg erwachte.
Er musste nun zum Haus Belier.
Dann in die Kanzlei. Tun, als ob nichts wäre.
Er sah sich in der Stube um. Ohne Hedwig war sie ohne Leben. Tisch, Stühle, eine hohe Truhe, ein Wandbord, der dreiarmige Kerzenständer, den sie eines Tages angeschleppt hatte und um dessentwillen er sie gescholten hatte, denn sie benutzten ja kaum Kerzen, schon gar nicht drei auf einmal. Jetzt tat es ihm leid. Dabei hatte er ihr selber Geschenke mitgebracht in den eineinhalb Jahren, die er sie in Reilingen besucht hatte, während er in Schwetzingen bei Onkel Dietmar und später bereits in Heidelberg lebte. Die kleine Lammfigur aus Horn, weil sie Tiere so gerne mochte. Eine Neckarmuschel an einem Lederband, die sie nicht hatte tragen können, solange ihr Vater ihre Verbindung nicht erlaubte, weshalb er sich heimlich mit ihr traf. Sie hatten so viel auf sich genommen! Nie mehr würde er sie ausschelten. Sie sollte nur wohlbehalten zu ihm zurückkommen.
Bevor die Verzweiflung ihn erneut übermannte, straffte er entschlossen die Schultern. Es half ja nichts. Er musste los. Also trat er zur Waschschüssel, die auf der Truhe stand, wusch sich mit dem kalten Wasser das Gesicht, spülte den Mund aus, um den bitteren Geschmack loszuwerden. Griff mit beiden Händen ins Haar, strich es mit gespreizten Fingern nach hinten. Dann öffnete er die Tür. Vermaledeit! Bestimmt zwei Zoll hoch lag der Schnee auf der Außentreppe.
Hell schimmerte der Hof unter ihm in der Dunkelheit. Wittib Ringelers Ältester war dabei, den Weg zum Abtritt frei zu fegen. Dick eingemummt war er und sah nicht auf, obwohl das Knarren der Tür zu hören war, als Philipp sie schloss. Eine
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