Das Buch des Vergessens
erfordern. Das ist hier nicht geschehen. Aber ein flüchtiger Blick in eine dieser Sammlungen reicht, um zu sehen, dass Abschiedsbriefe aus einem anderen Jahrhundert, einem anderen Land, geschrieben unter vollkommen anderen Umständen, eher durch Übereinstimmungen mit den französischen Briefen berühren als durch Unterschiede.
Im Winter 1942/43 war ein Teil des deutschen Heeres bei Stalingrad eingekesselt worden. Als klar wurde, dass eine Befreiung nicht zu erwarten war, erhielten die Truppen die Erlaubnis, Briefe zu schreiben, die dem letzten Flugzeug mitgegeben würden, das die Stadt noch würde verlassen können. Die meisten Soldaten wussten, dass es ihr letzter Brief an zu Hause sein würde. Die sieben Postsäcke wurden bei Ankunft in Deutschland beschlagnahmt. Sie den Familien zuzustellen, urteilte die Heeresleitung, würde die Moral an der Heimatfront zerrütten; die Briefe landeten im Archiv.
Anmerkung
In den Abschiedsbriefen zeigen die Soldaten sich verbittert und desillusioniert über den militärischen Oberbefehl. Aber die Themen, über die sie ihren Familien schreiben, stimmen mit dem Inhalt der Briefe ausder Schreckensherrschaft überein: der Trost, den ein Porträt geben kann, der Versuch, noch ein Foto mitzuschicken, die Sorge um den Kummer, der dieser Brief den Eltern, Ehegatten oder Kindern bringen wird, die Anweisungen für die letzten Wünsche, die Versicherung, der Verfasser werde ehrenvoll sterben, die Vergebung, die erbeten wird für Fehltritte oder Zwistigkeiten in der Vergangenheit. Aber vor allem: dieselbe Spannung zwischen dem Wunsch, in der Erinnerung der Lieben weiterzuleben, und dem Bewusstsein, das Glück dieser Lieben verlange, dass ihr Leben nicht in der Erinnerung stecken bleiben möge. Eine Stimme stellvertretend für viele, ein namenloser Soldat an seine Frau: »Du wirst im Januar achtundzwanzig. Das ist noch sehr jung für eine so nette Frau wie Dich, und ich bin froh, dass ich Dir dieses Kompliment immer wieder machen konnte. Du wirst mich sehr vermissen, aber dennoch darfst Du Dich nicht von den Menschen abwenden. Lass ein paar Monate darüber hinweggehen, aber nicht länger. Denn Gertrud und Claus brauchen einen Vater. Vergiss nicht, dass Du für die Kinder leben musst, und mach nicht zu viel Aufhebens über ihren Vater. Kinder vergessen sehr schnell, vor allem in ihrem Alter.«
Anmerkung
Abschiedsbriefe
Abschiedsbriefe und Briefe wie diese haben ein düsteres Pendant in den Briefen, die auch Abschiedsbriefe sind, nämlich die Zeilen, die Menschen hinterlassen, wenn sie ihr Leben selbst beenden. Auch hiervon haben Psychologen und Psychiater Sammlungen angelegt, aus denen man sich Erkenntnisse über die Motive ihrer Verfasser erhoffte. Auch diese Abschiedszeilen sind unter großem Zeitdruck geschrieben, zwar selbst gewählt, aber fast immer mit deutlich weniger Zeit zwischen dem Schreiben und dem Tod. Der Beschluss kann vor langer Zeit gefasst worden sein, die letztendliche Ausführung geschieht häufig in einer Atmosphäre plötzlicher Eile, und das hinterlässt Spuren in den Abschiedsbriefen. Es sind wirklich Aufzeichnungen des allerletzten Moments, gejagt geschrieben, oft wirr, auf Papier, das zufällig da lag, die Rückseite eines Briefumschlags,eine Seite aus dem Kalender. Mit den vorigen Briefen haben sie auch gemein, dass sie das Letzte enthalten, was die Verfasser noch mitteilen konnten. Auch ihnen ist bewusst, dass sie bald nur noch in Erinnerungen weiterleben werden. Aber ansonsten überwiegen die Kontraste.
Die Verurteilten während der Schreckensherrschaft, die eingekesselten Soldaten und all die anderen mit einem unfreiwilligen Tod vor Augen versuchten aus aller Kraft, ihren Liebsten noch einen Bericht zukommen zu lassen. Genau das machen die meisten Menschen, die ihr Leben selbst beenden, nicht.
Anmerkung
Schon vor anderthalb Jahrhunderten hat man eine ausführliche Statistik über das Hinterlassen oder Nicht-Hinterlassen von Abschiedsbriefen erstellt, und diese Statistik ist die eines kuriosen Fehlens von Unterschieden.
Anmerkung
Frauen hinterlassen genauso oft Briefe wie Männer, Ältere ebenso oft wie Jüngere, Verheiratete so oft wie Alleinstehende. Eltern schreiben ebenso oft an ihre Kinder wie Kinder an ihre Eltern. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen sozialökonomischer Klasse oder ethnischem Hintergrund und genauso wenig mit Faktoren wie frühere Selbstmordversuche oder psychiatrische Problematik.
Anmerkung
Aber dieses gerade genannte ›genauso oft‹
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